Fieber
aggressivste, den ich je kennengelernt habe. Gestern haben wir ihr ein sehr starkes Medikament gegeben. Es heißt Daunorubicin und ist von mir bereits sehr erfolgreich eingesetzt worden. Als ich heute morgen Michelles Blut untersucht habe, mußte ich schockiert feststellen, daß wir nicht die geringste Wirkung auf ihre Leukämiezellen erzielt haben. Obwohl das gelegentlich vorkommt, ist es doch sehr ungewöhnlich. Deshalb habe ich mich entschlossen, die Behandlung einkleines bißchen abzuändern. Normalerweise verabreichen wir die zweite Dosis dieses Medikaments erst am fünften Behandlungstag. Ich habe sie Michelle statt dessen bereits heute morgen gegeben, zusammen mit dem Thioguanin und dem Cytarabin.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?« fragte Cathryn.
»Ich sage Ihnen das im Hinblick auf das gestrige Verhalten Ihres Mannes«, antwortete Dr. Keitzman. »Und auf das, was Dr. Wiley und ich mit Ihnen besprochen haben. Ich fürchte, daß Ihr Mann sich von seinen Gefühlen hinreißen lassen wird und versuchen könnte, die Behandlung mit den Medikamenten abzubrechen.«
»Aber wenn sie nicht wirken, sollten sie vielleicht wirklich abgesetzt werden«, sagte Cathryn.
»Mrs. Martel, Michelle ist ein sehr krankes Kind. Diese Medikamente sind ihre einzige Chance, die Krankheit vielleicht doch zu überleben. Ja, es ist bedauerlich, daß sie bisher nicht gewirkt haben. Und Ihr Mann hat recht, wenn er sagt, daß Michelles Chancen nur sehr gering sind. Aber ohne Chemotherapie hat sie überhaupt keine.«
Cathryn fühlte ein stechendes Schuldgefühl durch ihren Körper zucken. Sie hätte Michelle schon vor Wochen ins Krankenhaus bringen sollen.
Dr. Keitzman erhob sich. »Ich hoffe, daß Sie meine Worte richtig verstanden haben. Michelle braucht Sie und Ihre ganze Kraft. Und jetzt bitte ich Sie, Ihren Mann anzurufen, damit er hierher kommt. Er muß wissen, was gerade vorgefallen ist.«
Noch bevor der Radioaktivitätszähler anfing, die Elektronen zu registrieren, die von den Reagenzgläsern ausgingen, wußte Charles, daß die Gewebekultur mit Michelles Leukämiezellen die radioaktiven Nukleotiden absorbiert und aufgenommen hatte. Diese war das letzte Stadium seines Versuchs, eine konzentrierte Lösung eines Oberflächenproteins herzustellen, das Michelles Leukämiezellen von ihren normalen Zellen unterschied. Dieses Protein war für Michelles Körper etwas Fremdes, aber der Blockierungsfaktor, von dem Charles wußte, daß er auch in Michelles Immunsystem wirkte, verhinderte, daß dieser Fremdkörper abgestoßen wurde. Diesen Blockierungsfaktor hatte Charles untersuchen wollen. Wenn er nur etwas mehr über die Wirkungsweise des Blockierungsfaktors gewußt hätte, vielleicht wäre es möglich gewesen, ihn zu hemmen oder sogar ganz auszuschalten. Charles war tief enttäuscht, seine Arbeit so nahe vor einer Lösung aller Fragen abbrechen zu müssen. Gleichzeitig mußte er eingestehen, daß ihn sein Projekt durchaus noch weitere fünf Jahre in Anspruch nehmen konnte und daß der Erfolg keinesfalls schon garantiert war.
Charles schloß den Inkubator mit der Gewebekultur und ging zu seinem Schreibtisch. Er wunderte sich, daß Ellen noch nicht ins Labor zurückgekommen war. Charles wollte noch einmal das Canceran-Projekt durchsprechen, und sie war die einzige Person, die genug davon verstand und der er noch vertraute.
Er setzte sich und versuchte, nicht mehr an das demütigende Gespräch mit Dr. Ibanez und den beiden Weinburgers zu denken. Statt dessen erinnerte er sich an seinen frustrierenden Besuch bei der Umweltschutzbehörde, was seine Stimmung auch nicht sonderlich hob. Im Grunde mußte er selbst über seine Naivität lachen, daß er tatsächlich geglaubt hatte, man brauchte nur zu einer Regierungsbehörde zu gehen, um sofort etwas zu erreichen. Er überlegte, ob es für ihn überhaupt einen Weg gab, an ein Foto zu gelangen, das die Vergiftung des Flußwassers durch Recycle beweisen konnte. So sehr er das bezweifelte, er mußte es versuchen.
Aber wenn er ohnehin selbst den Beweis für den Umweltskandal zu liefern hatte, vielleicht sollte er Recycle dann auch gleich selbst vor Gericht bringen, ohne lange auf die USB zu warten. Charles wußte sehr wenig von Recht und Gesetz, aber es gab eine Informationsquelle, die ihm offenstand. Die Anwaltskanzlei, mit der das Weinburger-Institut zusammenarbeitete.
Die linke untere Schublade seines Schreibtisches benutzte Charles als Ablage für allgemeine Informationsbroschüren.
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