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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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versuchten sie, ihm Angst einzujagen. »Ich weiß, daß ihr da unten seid«, rief er. »Kommt nur rauf, ich habe etwas für Sie, Julian!« Er brachte das Gewehr in Anschlag.
    Stille.
    »Verdammtes Volk!« brüllte Marsh.
    Etwas bewegte sich am Fuß der Treppe, eine huschende Gestalt, bleich und schnell. Marsh riß das Gewehr hoch, um zu schießen, aber die Gestalt war verschwunden, ehe er noch zielen konnte.
    Er fluchte und tat zwei Schritte die Treppe abwärts, dann blieb er stehen. Das war es, wozu sie ihn verleiten wollten. Sie versuchten ihn nach unten zu locken, auf die Promenade und zu den dunklen Kabinen und in den dämmrigen, staubigen Salon, durch dessen schmutziges Oberlicht das Mondlicht hereindrang. Hier oben auf dem Sturmdeck würde er sie in Schach und sich vom Leib halten können. Hier oben kämen sie nicht so leicht an ihn heran: Er konnte sie Stufen hinaufschleichen sehen, sah sie an den Seitenwänden hochklettern, was immer sie sich überlegt hatten. Aber dort unten wäre er ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
    » Kapitän! « rief eine leise Stimme von unten herauf. » Kapitän Marsh! «
    Marsh hob des Gewehr und zielte.
    »Nicht schießen, Kapitän! Ich bin’s. Nur ich bin’s.« Sie trat am Fuß der Treppe in sein Blickfeld. Valerie. Marsh zögerte. Sie schaute lächelnd zu ihm herauf, wobei ihr dunkles Haar das Mondlicht einfing, und wartete. Sie trug eine lange Hose und das Rüschenhemd eines Mannes, das vorn aufgeknöpft war. Ihre Haut war weich und blaß, und ihre Augen fingen seinen Blick ein und hielten ihn fest, leuchtende violette Lampen, tief, wunderschön, unergründlich. Er hätte für immer darin eintauchen können. »Kommen Sie zu mir, Kapitän!« rief Valerie. »Ich bin allein, Joshua hat mich geschickt. Kommen Sie herunter, damit wir uns unterhalten können.« Marsh tat zwei Schritte abwärts, angelockt von diesen funkelnden Augen. Valerie streckte die Arme aus.
    Die Eli Reynolds stöhnte und rutschte plötzlich nach Steuerbord. Marsh stolperte und stieß sich das Schienbein hart an der Treppe, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Er hörte schwaches Gelächter von unten heraufdringen, sah Valeries Lächeln brüchig werden und versiegen. Fluchend brachte Marsh das Gewehr an die Schulter und feuerte. Der Rückschlag riß ihm beinahe die Schulter ab und schleuderte ihn nach hinten gegen die Treppenstufen. Valerie war verschwunden, verweht wie ein Gespenst. Marsh fluchte und kam auf die Füße und suchte in seiner Tasche nach einer weiteren Patrone und wich dabei zur Treppe zurück. »Joshua, zur Hölle!« brüllte er in die Dunkelheit hinunter. »Julian hat dich geschickt, dieser verfluchte Teufel!«
    Als er wieder auf das Sturmdeck kam, das nun um dreißig Grad geneigt war, spürte Marsh, wie sich etwas Hartes zwischen seine Schulterblätter drückte. »Sieh mal an«, sagte die Stimme, »wenn das nicht Cap’n Marsh ist.«
    Die anderen erschienen auch, einer nach dem anderen, als Marsh das Gewehr mit einem lauten Klappern auf das Deck fallen ließ. Valerie kam als letzte und wollte ihm nicht in die Augen blicken. Abner Marsh beschimpfte und verfluchte sie als verlogene Hure. Schließlich schenkte sie ihm einen schrecklichen, anklagenden Blick. »Meinen Sie denn, ich hätte eine Wahl gehabt?« fragte sie bitter, und Marsh brach seine Tirade ab. Es waren nicht ihre Worte, die ihn verstummen ließen; nicht ihre Worte, aber der Ausdruck in ihren Augen. Denn in diesen endlosen violetten Schächten, ganz kurz aufflackernd, sah Marsh Scham und Grauen - und Durst.
    »Los!« rief Sour Billy Tipton.
    »Verdammter Kerl«, knurrte Abner Marsh.

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
 
An Bord des Raddampfers Ozymandias Mississippi River, Oktober 1857
     
     
    A bner Marsh hatte Dunkelheit erwartet, doch als Sour Billy ihn durch die Tür der Kapitänskabine stieß, erstrahlte der Raum im warmen Lichtschein der Öllampen. Die Kabine wirkte verstaubter, als Marsh sie in Erinnerung hatte, doch ansonsten war alles so geblieben, wie Joshua es sich eingerichtet hatte. Sour Billy schloß die Tür, und Marsh war mit Damon Julian allein. Er packte seinen Hickorystock fester - Billy hatte das Gewehr in den Fluß geschleudert, Marsh jedoch gestattet, seinen Stock zu holen - und machte ein finsteres Gesicht. »Wenn Sie die Absicht haben, mich zu töten, dann kommen Sie und versuchen es«, sagte er. »Ich bin jetzt nicht in der Stimmung für alberne Spiele.«
    Damon Julian lächelte. »Sie

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