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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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»Wenn es das ist, was Sie vorhaben, Abner, dann denken Sie daran, wer ich bin. Sie sind mein Freund, aber die anderen sind Blut von meinem Blut: mein Volk, Ich gehöre zu ihnen. Ich dachte, ich sei ihr König.«
    Seine Stimme klang so bitter und verzweifelt, daß Abner Marshs Wut verflog. Statt dessen empfand er Mitleid. »Sie haben alles versucht und sich Mühe gegeben«, sagte er.
    »Ich habe versagt. Ich habe auch Valerie nicht helfen können, und Simon und allen anderen, die an mich geglaubt haben. Ich habe euch und Mister Jeffers geschadet, und ich habe auch das kleine Kind umkommen lassen. Ich glaube, auf irgendeine seltsame Art habe ich auch Julian verraten.«
    »Es war nicht Ihre Schuld«, beharrte Marsh.
    Joshua York hob die Schultern, aber in seinen grauen Augen lag ein entschlossener kalter Ausdruck. »Was vergangen ist, ist vergessen. Ich denke nur noch an heute und an morgen und an übermorgen. Ich muß zurück. Sie brauchen mich, auch wenn sie das vielleicht nicht erkennen. Ich muß zurückkehren und mein möglichstes tun, so wenig und unwichtig es vielleicht auch sein mag.«
    Abner Marsh schnaubte. »Und Sie raten mir zur Aufgabe? Meinen Sie, ich sei wie dieser arme Narr, der Sie ständig angegriffen hat? Verdammt, Joshua, was ist mit Ihnen? Wie oft hat Julian sich jetzt an Ihnen gelabt? Mir kommt es so vor, als seien Sie genauso verflucht stur und dumm, wie Sie es von mir behaupten.«
    Joshua lächelte. »Vielleicht«, gab er zu.
    »Verflucht noch mal«, schimpfte Marsh. »Na schön, gehen Sie zurück zu Julian wie ein armseliger Idiot. Was, zum Teufel, soll ich jetzt tun?«
    »Sie sollten lieber so schnell wie möglich von hier verschwinden«, riet Joshua ihm, »ehe unsere Gastgeber noch mißtrauischer werden, als sie es ohnehin schon sind.«
    »Soviel habe ich mir auch schon gedacht.«
    »Es ist vorbei, Abner. Suchen Sie nicht mehr nach uns.«
    Abner Marsh schüttelte wütend den Kopf. »Verdammt noch mal!«
    Joshua lächelte. »Sie verfluchter Narr«, sagte er. »Nun, dann suchen Sie, wenn Sie es nicht lassen können. Sie werden uns nicht finden.«
    »Ich werde sehen.«
    »Vielleicht gibt es für uns noch Hoffnung. Ich kehre zurück, zähme Julian und errichte meine Brücke zwischen Nacht und Tag, und zusammen werden Sie und ich die Eclipse besiegen.«
    Abner Marsh schnaubte abfällig, doch tief in seinem Innern wollte er daran glauben. »Kümmern Sie sich um mein verdammtes Dampfschiff«, sagte er. »Es gab nie ein schnelleres, und wenn ich sie zurückbekomme, dann sollte es schon in gutem Zustand sein.«
    Als Joshua lächelte, sprang die trockene tote Haut um seinen Mund auf. Er hob eine Hand und riß die Haut ab. Sie ließ sich leicht abziehen, als wäre sie Teil einer Maske, die er trug, einer häßlichen Fratze voller Narben und Falten. Darunter war die Haut milchig weiß, rein und glatt, bereit, von neuem zu beginnen, bereit, daß die Welt sich darauf verewigte. York zerknüllte das alte Gesicht in der Hand; Flocken alten Schmerzes und Hautschuppen rieselten durch seine Finger und segelten zu Boden. Er wischte sich die Hand an der Jacke ab und streckte sie Abner Marsh entgegen. Sie schüttelten sich die Hände.
    »Wir alle müssen unsere Wahl treffen«, sagte Marsh. »Das haben Sie mir gesagt, Joshua, und Sie hatten recht. Diese Wahl ist nicht immer leicht. Ich glaube, eines Tages sind auch Sie mit dieser Wahl an der Reihe. Zwischen Ihrem Volk der Nacht - und nun, nennen Sie es das Gute. Recht zu handeln. Sie wissen genau, was ich meine. Entscheiden Sie sich richtig, Joshua.«
    »Und Sie, Abner, entscheiden Sie für sich stets weise.«
    Joshua York wandte sich mit flatterndem Umhang um und ging hinaus. Er setzte mit lässiger Eleganz über die Balustrade und sprang sieben Meter weit in die Tiefe auf den Erdboden, als täte er dies jeden Tag, und landete geschickt auf den Füßen. Dann war er nicht mehr zu sehen, war verschwunden und bewegte sich so schnell, daß er mit der Nacht zu verschmelzen schien. Vielleicht hat er sich auch in einen verfluchten Nebelhauch verwandelt, dachte Abner Marsh.
    Weit weg, auf dem hellen Streifen, der zum Fluß gehörte, betätigte ein Dampfer seine Pfeife. Es war ein melancholischer Ruf, irgendwie verloren und einsam. Es war eine schlimme Nacht auf dem Fluß. Aber Marsh fröstelte und fragte sich, ob es gar schon gefroren hatte. Er schloß die Balkontür und ging wieder zu Bett.

KAPITEL DREISSIG
 
Fieberjahre:
November 1857 - April 1870
     
     
    B

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