Fieses Karma
tiefer. Vielleicht funktioniert das Universum wie eine Art riesige Waage. Was immer man auf die eine Waagschale legt, muss ausgeglichen werden, indem man etwas mit genau demselben Gewicht auf die andere Waagschale legt. Sonst gerät alles aus dem Gleichgewicht und wir schweben alle hinaus ins Weltall oder so.
Ist es das, was der Mann uns sagen will, wenn er vom Gleichgewicht spricht? Dass Mason eines Tages wirklich bekommt, was er verdient hat? Dass auch er ausgeglichen werden und möglicherweise so erniedrigt und verletzt wird, wie ich? Vor allen anderen? Ja, dann würde ich mich eindeutig hundert Mal besser fühlen.
Plötzlich wird dieser Rajiv-Typ interessant trotz seines lächerlichen Wallegewandes.
»Und während das Karma und das Universum damit beschäftigt sind, ihre Aufgaben zu erfüllen, alles Leben im Gleichgewicht zu halten, müsst auch ihr die Verantwortung dafür übernehmen, das Gleichgewicht in eurem eigenen Leben wiederherzustellen.«
Nun bringt er Beispiele, wie wir das anstellen können. Es geht darum, sich die Zeit zu nehmen, mit geliebten Menschen schöne Augenblicke zu erleben, Menschen, denen es weniger gut geht, zu helfen, und noch um ein paar andere Vorschläge, die ich nicht richtig mitbekomme, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, darüber nachzudenken, was das in Bezug auf die Ereignisse der letzten Woche zu bedeuten hat.
Als der Workshop vorbei ist, gehen meine Mutter und ich zu Rajiv, um uns persönlich für seinen inspirierenden Vortrag zu bedanken. Ich nehme mir die Zeit, ihm ein ehrlich gemeintes Lächeln zu schenken und zu sagen: »Ja, es hat mich wirklich inspiriert.«
Er drückt die Handflächen zusammen, als wolle er beten, doch stattdessen verbeugt er sich leicht, und dabei bemerke ich das Symbol, das an einer schwarzen Schnur an seinem Hals baumelt.
Ich habe dieses Symbol schon öfter gesehen. Meistens hängt es am Rückspiegel der Autos von Surfern oder klebt an der Stoßstange der Kombis von Hippies. Aber ich habe nie wirklich verstanden, was es bedeutet. Ich dachte immer, es sei irgend so ein alternatives Friedenszeichen.
Als Rajiv sich wieder von seiner Verbeugung erhebt, scheint er mitzubekommen, dass ich auf das Symbol starre, denn er berührt es sanft mit den Fingerspitzen. »Das ist ein Yin-Yang.«
Ich versuche, meine Unwissenheit zu verbergen. »Ja, ich weiß.«
Ich wusste es nicht.
»Es steht für das Gleichgewicht«, erklärt er geduldig, während er die Hände faltet und die Arme senkt. »Siehst du, alles hat sein vollkommenes Gegenstück. Genau wie Yin und Yang. Wir müssen das Gegenteil unseres Schmerzes finden; dann werden wir unsere Quelle der reinsten Freude entdecken.«
Ich nicke eifrig. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
Meine Mutter wirft mir einen Seitenblick zu, der wie eine Mischung aus »Wer ist dieser Mann?« und »Was hat er mit meiner armen, verzweifelten Tochter gemacht?« wirkt.
Ich ignoriere ihren Blick und bemühe mich, Rajivs Halbverbeugung nachzumachen, während ich mich bedanke und von ihm verabschiede. Meine Mutter wirft mir noch einen seltsamen Blick zu, aber dann beschließt sie, nicht weiter nachzubohren.
Auf der ersten Viertelstunde unserer Rückfahrt nach Pine Valley schweigen wir beide. Ich bin hundertprozentig mit meinen Gedanken beschäftigt und ich bin sicher, dass meine Mutter hundertprozentig mit dem Versuch, meine Gedanken zu lesen, beschäftigt ist.
Schließlich bricht sie das Schweigen. »Es war ein interessanter Vortrag, nicht wahr?«
»Mmm-hmm«, grummele ich, bemüht, ihr nicht allzu viel Befriedigung über meinen plötzlichen Sinneswandel zu verschaffen.
Ja, der letzte Typ hat ein paar nützliche Gedanken in mir entfacht, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich jetzt zugeben muss, dass die ganze Entführung/spirituelle Erleuchtung dieses Wochenendes eine gute Idee gewesen sein könnte.
»Ich finde, was er zum Schluss gesagt hat, nämlich dass man im Schmerz die Freude findet, ist ganz ähnlich wie das, was ich immer sage: Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade daraus. Das Yin zu deinem Yang zu finden ist dasselbe wie den Zucker und das Wasser für deine Limonade zu finden. Es gehtallein darum, etwas, das einem vorher negativ schien, in etwas Positives umzuwandeln.«
Ich wende den Kopf und schaue aus dem Fenster, als würde ich ihr nur halb zuhören. »Ja«, sage ich beiläufig, »du hast wahrscheinlich recht.«
Wenn man den eigenen Eltern gegenüber zugibt, dass sie recht haben, bewegt man
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