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Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)

Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)

Titel: Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lev Grossman
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hätte natürlich ablehnen können. Sie hätte die Nummer des Mietwagenservices zu Ende wählen und dem Mann mit dem Strohhut den Rücken zudrehen können. Sie hätte in das Auto steigen, dem Hochlandbewohner aus Guatemala am Steuer ihre Adresse so oft vorsagen können, bis er sie schließlich verstanden hätte, und wegfahren können. Doch sie brachte es nicht fertig, obwohl sie wünschte, sie hätte es gekonnt. Das hatte sie sich damals gewünscht und sollte es sich in Zukunft noch viele Male wünschen.
    Aber nein, sie konnte nicht weg, denn der Traum, der Traum von der Magie, war nicht ausgeträumt. Sie hatte versucht, ihn zunichtezumachen, ihn mit Hilfe von Arbeit, Drogen, Therapien, Verwandten und den Free Traders zu verscheuchen, aber es war ihr nicht gelungen. Sie war davon besessen.
    Der eulenhafte junge Mann, der an jenem Abend als Türsteher des Safehouses fungierte, hieß Jared. Er war um die dreißig, nicht besonders groß und lächelte strahlend. Er hatte einen dichten schwarzen Stoppelbart und eine dicke schwarze Brille. Seit neun Jahren arbeitete er an der NYU an seiner Dissertation in Sprachwissenschaft; nachts und an den Wochenenden arbeitete er an seiner Zauberkunst.
    Nicht alle waren so akademisch verkopft wie er, keineswegs. Die Leute im Safehouse bildeten eine überraschend heterogene Gemeinschaft, es gab das zwölfjährige Wunderkind aus der Nachbarschaft und die fünfundsechzigjährige Witwe, die an den Wochenenden mit ihrem BMW -Geländewagen aus Westchester County herunterfuhr. Insgesamt gab es eine wechselnde Besetzung von etwa fünfundzwanzig Mitgliedern: Physiker, Empfangsdamen, Heizungs- und Sanitärinstallateure, Musiker, Schüler, Hedge-Fonds-Manager und bekloppte Sozialfälle. Und nun stieß auch Julia zu ihnen.
    Einige kamen nur einmal im Monat, um an ihren Zauberformeln zu arbeiten, andere waren täglich von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends da oder blieben sogar über Nacht, obwohl die Hausregeln Übernachtungen auf ein Minimum beschränkten. Einige waren im realen Leben High-Performer mit Karriere, Familie und keinerlei sichtbaren Zeichen für Exzentrizität oder Verblödung. Doch die Magie nebenbei zu betreiben war ein heikler Eiertanz, und wenn man stolperte, schlug man hart auf dem Boden auf. Selbst wenn man wieder aufstand, behielt man unter Umständen ein Hinken zurück. Und früher oder später stürzte jeder.
    Denn es war so: Von wem die Magie einmal Besitz ergriffen hatte, wer das Doppelleben eines geheimen Untergrundzauberers führte, der bezahlte einen hohen Preis dafür. Denn dein geheimes Leben zerrte ständig an dir. Dein magisches Selbst, dieser durchgeknallte Doppelgänger, war immer bei dir, zupfte dir am Ärmel und flüsterte dir zu, dein reales Leben sei ganz falsch, eine plumpe, würdelose und unauthentische Scharade, die dir sowieso niemand abkaufe. Dein wahres Selbst, das eigentlich Wesentliche, sei das andere, bei dem du auf einer durchgesessenen Couch in der limonengrünen Bruchbude an der Throop Avenue seltsam mit den Händen gestikulierst und dazu in einer toten slawischen Sprache psalmodierst.
    Julia behielt ihren Job, verbrachte aber fast jeden Abend und jedes Wochenende in dem Haus. Die Gier war zurück, und diesmal sah es so aus, als könne sie sie befriedigen. Sie hatte Witterung aufgenommen und würde die Beute erlegen. Sie meldete sich nicht mehr bei FTB . Die Free Traders konnten warten. Sie waren daran gewöhnt, dass Mitglieder plötzlich für Monate oder Jahre in Schweigen verfielen. In der Gemeinschaft der Manisch-Depressiven mit ihren ständigen Gefühlsschwankungen war das zu erwarten.
    Was ihre Eltern betraf, schottete sich Julia ab. Sie wusste, was sie ihnen antat und wie schmerzlich es für sie war, mitanzusehen, wie sie wieder ihrer Obsession verfiel, abmagerte, verdreckte und so weiter, aber sie tat es trotzdem. Ihr war, als hätte sie keine andere Wahl. Sie war süchtig. An die Konsequenzen für ihre Familie zu denken, richtig darüber nachzudenken, hätte sie vor Reue zerfließen lassen. Also vermied sie es. Am ersten Morgen ertappte sie sich dabei, wie sie am Frühstückstisch gedankenverloren, fast lustvoll mit dem Daumennagel über ihren Arm fuhr und dabei einen roten Striemen hinterließ – oder besser: Sie merkte es, als sie den erschrockenen Blick ihrer Mutter auffing. Keiner sagte ein Wort, aber Julia sah an jenem Morgen, wie ein Teil ihrer Mutter starb. Und sie unternahm keinerlei heroische Wiederbelebungsversuche.
    Auch sie

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