Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
selbst hätte an diesem Morgen sterben können, wusste Julia. Beinahe wäre es so weit gewesen. Aber wenn man es zulässt, dass sich eine Ertrinkende an einen klammert, wird man mit in die Tiefe gezogen, und wozu? Das redete sie sich jedenfalls ein. Man muss der Hilflosen in die Augen sehen, sich von ihr lösen und zusehen, wie sie in die luftlosen grünen Tiefen sinkt und dort umkommt. Entweder so, oder alle beide starben. Was würde das nützen?
Julias Schwester wusste das. Man sah die Enttäuschung in ihren flinken braunen, klugen Augen, die sich jedoch kurz darauf in einen klaren, abweisenden, beschützenden Ausdruck verwandelte. Die Schwester war noch jung genug, um das Wrack zu umrunden und ihren eigenen Weg fortzusetzen. Sie ließ Julia zurück, die Schwester mit den düsteren Geheimnissen. Kluges Kind. Sie traf eine vernünftige Entscheidung. Julia ebenfalls.
Doch was hatte Julia davon? Was bringt es dir, deine Familie, dein Herz, dein Leben und deine Zukunft zum Verkauf anzubieten? Was verdienst du daran? Was nimmst du dafür mit? Welchen Gewinn gibt es einzustreichen?
Einen hohen, so stellte sich heraus. Eine Riesenmenge geheimen Wissens, zum Beispiel.
An jenem ersten Tag wurde Julia getestet. Von dem Moment an, in dem man durch die Tür trat – Jared aktivierte sogar die Stoppuhrfunktion seines Smartphones –, hatte man fünfzehn Minuten Zeit, den Blitzzauber zu erlernen, den Quentin im Safehouse von Winton vermasselt hatte. Schaffte man das nicht, musste man gehen und konnte erst einen Monat später wiederkommen. Den »Ersten Blitz« nannten die Zauberer den Trick ziemlich einfallslos. Man konnte es natürlich bei einem anderen Safehouse versuchen, wenn man durchgefallen war – sie tauschten untereinander keine Informationen aus –, aber es gab nur zwei in New York City. Wenn man also innerhalb der Stadtgrenzen magisch aktiv werden wollte, musste man sich richtig Mühe geben oder die Sache vergessen.
Trotz ihrer Müdigkeit schaffte Julia es in exakt acht Minuten. Wenn ihr aus der Zeit als Regenbogenhexe noch ein bisschen Muskeltonus geblieben wäre, hätte sie nicht einmal so lange gebraucht.
Es stellte sich heraus, dass die anderen den Regenbogenzauber nicht kannten, daher druckte sie die Anleitung aus, die sie damals – vor nunmehr fast zwei Jahren – aus dem Internet heruntergeladen hatte, und brachte sie mit. Jared, der Linguist, steckte sie mit großem Pomp in eine transparente Plastikhülle und heftete diese in einem schäbigen, mit Klebefilm zusammengehaltenen Dreiringordner ab, in dem der Club seine Formeln aufbewahrte. Ein Ringordner: So etwas benutzten sie als Zauberbuch.
Um die kümmerliche Sammlung wurde ein regelrechter Kult betrieben. Das hätte Julia misstrauisch machen müssen.
Dennoch verzwanzigfachte die zerfledderte Kladde Julias Wissen über die Magie, was ihr unermessliche Freude bereitete. Unter Jareds Anleitung, oder wer auch immer an dem betreffenden Tag der erfahrenste Magier im Haus war, arbeitete sie sich durch das Buch. Sie lernte, wie man Dinge mit Hilfe von Magie zusammenklebte. Sie lernte, wie man aus der Entfernung ein Feuer entfachte. Sie lernte Formeln, mit denen man den Ausgang beim Münzwurf voraussagen, einen Nagel vor dem Rosten bewahren und einem Magneten die magnetische Ladung entziehen konnte. Die Besucher des Safehouses konkurrierten darin, wer am besten Alltägliches mit Hilfe der Magie erledigen konnte: Konserven öffnen, die Schuhe zubinden, Knöpfe schließen.
Das alles spielte sich auf einem etwas willkürlichen Brot-und-Butter-Niveau ab, aber es war ein Anfang. Nagel für Nagel, Magnet für Magnet brachte Julia ihre Umwelt dazu, ihren Anforderungen zu genügen. Magie: Das war, wenn der Verstand auf die Welt traf und der Verstand zu Abwechslung mal gewann.
Es gab noch einen zweiten Ordner mit Fingerübungen, ziemlich mitgenommen, weil er immer wieder aus Frustration in die Ecke gepfeffert worden war. Auch auf diese Übungen stürzte sich Julia. Bald konnte sie das Buch auswendig und übte unablässig die Positionen: unter der Dusche, unter dem Tisch beim Essen, unter ihrem Schreibtisch bei der Arbeit, abends, wenn sie im Bett lag. Dazu frischte sie eifrig ihre Sprachkenntnisse auf. Wie sich zeigte, hatte Magie nicht nur etwas mit Mathematik zu tun.
Je mehr Zauberformeln sie lernte, desto mehr Level erklomm sie. Ja, Level, so wurden sie genannt. Dass das Level-System, unmittelbar von Dungeons & Dragons übernommen (die es nach Julias
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