Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
wirklich keine Ahnung? Kaum zu glauben, dass ihr noch nie davon gehört habt. Genau um Mitternacht muss man sich in die Mitte der Brücke stellen, eine Tageszeitung und ein saftiges Steak in der Hand. Gut angezogen. Das ist alles.«
»Das ist alles?«
»Genau. Und dann springt man rein. So wird es traditionell gemacht. Keine Ahnung, ob es funktioniert. Es gibt kaum Informationen, vor allem keine zuverlässigen.«
Und dann sprang man rein. Das war alles.
»Funktioniert es denn wenigstens manchmal?«, fragte Quentin.
»Na klar!« Poppy nickte begeistert. »Logisch! Manche Drachen sind redseliger als andere. Jedes Jahr macht der Jahrgangsbeste der Schule in Kalkutta dem Drachen im Ganges seine Aufwartung, und in der Hälfte der Fälle klappt es.
Ein Drache im Canal Grande ist mir dagegen neu. Ich habe wirklich noch nie von ihm gehört. Ich dachte allmählich, du wolltet mich verarschen.« Dabei warf sie Josh einen scharfen, neubewertenden Blick zu.
»Allmählich?«, fragte Quentin.
»Also, wann geht’s los?«
»Heute Nacht. Aber tu mir bitte einen Gefallen: Erzähle noch niemandem davon.«
Poppy runzelte die Stirn, was bei ihr sehr hübsch aussah, wenn auch nicht absichtlich. »Warum nicht?«
»Gib uns eine Woche«, bat Quentin. »Das ist sicher nicht zu viel verlangt. Der Drache läuft nicht weg, und ich brauche eine reelle Chance, ihn zu treffen. Sollte irgendetwas von unserem Vorhaben durchsickern, können wir uns vor Schaulustigen nicht mehr retten.«
Poppy dachte einen Moment lang darüber nach.
»In Ordnung«, sagte sie schließlich etwas gekränkt.
Quentin merkte an ihrem Tonfall, dass sie ihr Versprechen halten würde.
Poppy erholte sich schnell von ihrer Enttäuschung und widmete sich ihrem Marmeladentoast. Obwohl sie so dünn war, aß sie mehr als Josh, vermutlich, weil sie ihr inneres Feuer in Gang halten musste, das sie ständig in diesen hochtourigen Energiezustand versetzte.
Anschließend hatten sie den ganzen Tag Zeit. Das Leben im Palazzo Josh (ehemals Palazzo Barberino, nach der Familie, deren Vorfahren ihn im sechzehnten Jahrhundert erbaut hatten. Danach hatte er einem Internet-Milliardär gehört, der nie einen Fuß hineingesetzt, seine Milliarden mit dubiosen Investitionen und einem Flug zur Internationalen Raumstation verplempert und ihn danach an Josh verkauft hatte) war keineswegs unbequem. Quentin fühlte sich bei dem Gedanken wie ein Verräter gegenüber Fillory, aber er hätte sich durchaus daran gewöhnen können. Der Palazzo bot zahlreiche Annehmlichkeiten. Man konnte den Vormittag im Bett verbringen, lesen und dem venezianischen Licht dabei zusehen, wie es über einen Orientteppich wanderte, der so üppig verziert war, dass er förmlich auf dem Fußboden schillerte. Man konnte endlos durch Venedig streifen – allein die architektonische Zauberkunst, die titanischen Bande, die die ganze Agglomeration daran hinderten, in der Lagune zu versinken, waren ein Pflichtprogramm für jeden Besucher der magischen Weltwunder.
Nicht zu verachten war auch der tägliche Spätnachmittagsspritz. Das alles zusammengenommen ließ Quentin oft für einige Minuten vergessen, dass er einst der König einer magischen Parallelwelt gewesen war.
Julia erging es nicht so. Nicht ganz. Sie gesellte sich zu ihm, während er seinen Drink auf dem
Piano nobile
genoss und über die massive Steinbalustrade hinweg das Panorama der Stadt bewunderte. Gemeinsam blickten sie hinunter zum Verkehr auf dem Kanal, zu dem hauptsächlich die Touristen beitrugen. Von ihren Booten aus schauten sie zu ihnen auf und fragten sich, wer sie wohl sein mochten – Prominente womöglich?
»Dir gefällt es hier«, stellte Julia fest.
»Es ist wunderbar. Ich war noch nie in Italien und hatte keine Ahnung, wie es ist.«
»Ich habe eine Zeitlang in Frankreich gewohnt«, erzählte sie.
»Ach, wirklich? Wann war das?«
»Vor langer Zeit.«
»Hast du da etwa das Autoklauen gelernt?«
»Nein.«
Sie schien nicht über dieses Thema reden zu wollen.
»Es ist wirklich schön hier«, gab sie zu.
»Möchtest du hierbleiben?«, fragte Quentin. »Oder möchtest du immer noch zurück nach Fillory?«
Julia stellte ihr Glas auf dem weißen Marmorgeländer ab. Wieder Whiskey, wieder pur. In ihrer Wange zuckte ein Muskel.
»Ich muss zurückkehren. Ich kann hier nicht bleiben.« Vorher hatte sie jedes Mal zornig und verzweifelt geklungen, wenn sie das sagte, doch jetzt schwang leises Bedauern in ihrer Stimme mit. »Ich muss weiter.
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