Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
Arbeiten über die Schulter. Julia tippte beim Frühstück. Sie tippte, während sie die Straße entlangging. Das Letzte, was sie vor dem Einschlafen sah, war die Free Trader App auf ihrem Smartphone, das auf dem Kissen neben ihr lag, und es war auch das Erste, was sie sah, wenn sie morgens die Augen aufschlug. Sie öffnete sich ihren Gleichgesinnten, wie sie es keinem anderen gegenüber je getan hatte: ohne Ironie, ohne Vorbehalt, ohne Reue. Sie schüttete den Free Traders ihr gebrochenes Herz aus, und sie nahmen es, reinigten und reparierten es und gaben es ihr zurück, frisch, blutig und mit neuer Kraft schlagend.
Brakebills erwähnte sie nie – das wäre sogar für FTB völlig inakzeptabel gewesen –, doch zu ihrer Erleichterung erkannte sie, dass das auch gar nicht nötig war. Die Einzelheiten dessen, was sie quälte, waren nicht wichtig. Es reichte, dass die anderen von dieser großen, leeren Stelle in ihr wussten, weil sie das Gleiche von sich kannten. In welcher Form, spielte keine Rolle. Julia hätte sich nicht gewundert, wenn sich außer ihr noch andere Brakebills-Verlierer den Free Tradern angeschlossen hätten. Doch sie fragte nicht nach.
Ihr waren alle Free Trader sympathisch, aber unweigerlich entwickelte sie zu manchen einen engeren Kontakt als zu andern. Sie bildeten eine kleine Clique, einen Kreis im Kreis, Julia und drei andere: Da war Falstaff, ein sanfter Poster, dessen kulturelle Anspielungen ihn vier Jahrzehnte älter machten als Julia, und Pouncy Silverkitten, dessen ätzender Sarkasmus sogar für FTB extrem war, obwohl er seine Opfer human auswählte, meistens jedenfalls, und Aschmodai, die Julias Gefühle mit telepathischer Intuition erfasste und mit theoretischer Physik so spielerisch umging, als sei sie nicht von dieser Welt.
Julia postete als ViciousCirce. Die anderen hatten vor ihrer Ankunft ein Trio gebildet, nahmen sie aber mit offenen Armen auf und führten ihre endlosen Unterhaltungen von da an vierhändig.
Bei FTB wurde es akzeptiert, wenn man einem privaten Thread folgen wollte, solange alle Parteien einverstanden waren, und manchmal zogen sich Julia, Aschmo, Pouncy und Falstaff in ihre eigene, hochabstrakte Welt zurück. In diesen privaten Threads wurden sie etwas konkreter, was ihr reales Leben betraf, obwohl es auch dann noch als Fauxpas galt, Hinweise auf den Wohnort preiszugeben. Die Identitäten möglichst zu verschleiern wurde zu einem Teil des Spiels, und auch, ausgefeilte fiktionale Persönlichkeitsprofile und Biographien füreinander zu erstellen. Julia arbeitete für jeden der anderen drei ein FBI -Serienmörderprofil aus, inklusive Phantomzeichnungen.
Ein weiteres beliebtes Spiel nannten sie »Serie«. Es war simpel: Einer nannte drei Wörter, Zahlen, Namen, Moleküle, geometrische Formen oder Ähnliches, die die ersten drei Elemente der Serie bildeten. Die anderen mussten das nächste Element der Serie finden und das Prinzip ergründen, auf dem sie beruhte. Ziel war es, die Serie so schwer wie möglich, aber dennoch theoretisch lösbar zu gestalten, wobei es jedoch nur eine Lösung geben durfte, also ein Grundprinzip, das mittels der angegebenen drei Elemente bestimmt werden musste. Wenn die Lösung gefunden war, ging der zweite Preis an denjenigen, der die Reihe um zehn Glieder erweitern konnte.
FTB eroberte Julias Leben, und sie ließ es geschehen. Selbst wenn sie offline war, spukte ihr FTB weiter durch den Kopf – ihr Verstand hatte so viel Zeit mit den unsichtbaren Persönlichkeiten der anderen verbracht, dass sie in ihrem Kopf kleine Klone erzeugt hatten, Piratensoftwareversionen von Aschmodai, Pouncy, Falstaff und den anderen, die auf Julias Hardware liefen. Sie war nicht verblödet, oh nein – es war nur ein Spiel, das sie mit sich selbst spielte. Ein bisschen verrückt, aber hey, jeder brauchte schließlich etwas, das ihn auf den Beinen hielt, oder? Ansonsten ging es ihr doch gut. Sie hatte zugenommen, kratzte sich nicht mehr und biss kaum noch an ihrer Nagelhaut herum. Den Regenbogenzauber hatte sie schon ewig nicht mehr gemacht. Ihr war klar, dass sie besessen war, doch sie schien nun einmal eine Frau zu sein, die irgendeine Obsession brauchte, und schließlich hätte es viel schlimmer kommen können. Das wusste sie ja nur zu gut.
Sie hatte beschlossen, der Krankheit ihren Lauf zu lassen. Irgendwann würde die Genesung einsetzen, und die Patientin würde verschwitzt, aber mit klarem Kopf erwachen. Die Fieberträume würden verblassen. Im Herbst
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