Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
beileibe nicht für jeden Feld-Wald-und-Wiesen-Melancholiker. Keineswegs!
Um einen Fuß in die Tür zu setzen, musste man zunächst seine Rezepte vorweisen. Die Gruppe verlangte Qualifikationen, und zwar solide! Nerds wie diese hatten keine Lust, sich das Gejammer anderer anzuhören, wehleidige Gedichte zu lesen – sorry, John – oder finstere Aquarelle zu betrachten. Das waren keine Weicheier. Wenn man depressiv war, wollten sie harte Fakten sehen, eine eindeutige Diagnose von einem renommierten Psychiater und handfeste Psychopharmaka. Wenn man zwei Medikamente brauchte, wie Julia, umso besser.
Wenn alles nach ihrer Zufriedenheit war, schickten sie den Bewerbern eine Videoeinladung. Der Film an sich war bedeutungslos, ein Ablenkungsmanöver, lediglich eine Reihe von New-Age-Plattitüden, präsentiert von einem sympathischen Hippie-Schauspieler. Doch für aufmerksame Zuschauer verbarg sich darin ein Schlüssel: ein einzelner Frame, der wie Schneegestöber aussah, aber konkrete Daten enthielt. Die schwarzen und weißen Pixel symbolisierten Einsen und Nullen, die aneinandergereiht eine Sounddatei ergaben. Eine Stimme sagte die Nummer einer altmodischen Mailbox an, die einen, wenn man dort anrief, durch eine Reihe von ziemlich kniffligen Mathematikaufgaben leitete. Wenn man diese binnen sechs Stunden oder weniger löste, erhielt man eine Zahlenreihe, die sich als Ulam-Sequenz entpuppte. Ulam war wiederum das Passwort zu der Webseite der IP -Adresse, die man erhielt, wenn man den Test bestand. Dort fand man ein Flash-Game vor, das keinerlei Sinn ergab, wenn man nicht vierdimensional denken konnte. Konnte man das, erhielt man einige GPS -Koordinaten in Süddakota, mit der eine GPS -Schnitzeljagd begann, bei der man zu einem grotesk komplizierten, dreidimensionalen Puzzle gelangte, durch das man – und so weiter und so fort …
Alles ein guter, sauberer, typisch amerikanischer Spaß. Eine kinderlose, schwer depressive vierundvierzigjährige Frau mit dem IQ eines Genies und einer achtstelligen Summe auf dem Bankkonto besaß Zeit im Überfluss. Es war fies, aber niemand zwang Julia dazu, und auch sie hatte zufällig Zeit im Überfluss. Sie brauchte drei Wochen, um den intellektuellen Hindernisparcours zu überwinden – wie gerne hätte sie gesehen, wie sich Quentin dabei geschlagen hätte –, doch am Ende erhielt sie mit Hilfe des Einsatzes zahlreicher Vierteldollarmünzen eine Plastikkugel aus einem Greiferspiel in einer heruntergekommenen Videospielhalle an der New-Jersey-Küste. Die Kugel enthielt einen USB -Stick, und darauf befand sich die echte Einladung. Keine Tricks diesmal. Sie war drin.
Free Trader Beowulf hatte vierzehn Mitglieder, Julia war Nummer fünfzehn. Es war nur ein Forum, aber Julia fühlte sich dort mehr zu Hause als irgendwo sonst seit den zwei Stunden, die sie vor vier Jahren in Brakebills verbracht hatte. Die Leute von FTB verstanden sie. Sie brauchte sich nicht zu erklären. Sie verstanden ihren Galgenhumor und ihre intellektuellen Anspielungen, ihre Wutanfälle und ihre Phasen langen Schweigens. Sie wiederum kam sehr schnell hinter ihre obskuren Insider-Witze und Running Gags. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich wie die letzte Überlebende eines untergegangen Amazonasstammes gefühlt, die ihren eigenen, ausgestorbenen Dialekt sprach, doch hier hatte sie endlich ihre ethnische Gruppe gefunden. Sie bildeten einen Haufen ans Haus gefesselter, übergebildeter Depressiver, doch ihr kamen sie menschlich vor, oder besser: nicht unbedingt menschlich, aber was immer Julia war, sie waren es auch.
Hinweise auf die wahren Lebensumstände der Mitglieder waren bei FTB verpönt. Niemand benutzte seinen echten Namen. In den meisten Fällen hatte Julia nur eine vage Ahnung, wo die anderen Mitglieder wohnten, welchen Beruf sie ausübten oder ob sie verheiratet waren. Manchmal war nicht einmal klar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Soweit Julia wusste, trafen sie sich nie persönlich. FTB war einfach nichts für die natürliche Realität. Das Outen der wahren Identität eines Mitglieds galt als Verstoß, der zum Ausschluss führte beziehungsweise: geführt hätte, wenn es je geschehen wäre. Willkommen bei Facelessbook, dem antisozialen Netzwerk.
In diesem Frühling war Julia so glücklich wie noch nie, seitdem ihr altes Leben geendet hatte. Jeden Tag plauderte sie rund um die Uhr mit den Free Traders. Sie umgaben sie wie eine unsichtbare Menge, scherzten und blickten ihr beim
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