Fillory - Die Zauberer
dünn, dass man ihn in der Dämmerung leicht hätte aus den Augen verlieren können, wenn sich seine weiße Rinde nicht von den dunklen Stämmen um ihn herum abgehoben hätte. Seine dünnen oberen Zweige peitschten und schlugen gegen die Bäume, an denen er sich vorbeidrängte. Er sah eher wie eine Marionette oder eine Maschine als wie ein lebendiges Wesen aus. Quentin fragte sich, wie er die Balance hielt.
»Heilige Scheiße!«, stieß Josh hervor.
Ohne ein Wort zu sagen begannen sie, dem Baum zu folgen. Er grüßte sie nicht, drehte aber für einen Moment seine Astkrone in ihre Richtung, als werfe er einen Blick über die nicht vorhandene Schulter. In der Stille hörten sie ihn bei seiner mühsamen Art der Fortbewegung tatsächlich knarren wie einen Schaukelstuhl. Quentin beschlich die leise Ahnung, dass er sie absichtlich ignorierte.
Nach den ersten fünf Minuten magischen Staunens fühlte es sich irgendwie unhöflich an, dem Baum-Geist-Ding so aufdringlich zu folgen. Es wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen, aber sie wollten es auch nicht entwischen lassen. Die Gruppe heftete sich an seine Fersen. Quentin hoffte, dass das Wesen ihnen eine Erklärung liefern konnte. Falls es sich nicht plötzlich umdrehte und sie alle mit seinen Ästen totprügelte.
Janet ließ Penny nicht aus den Augen und brachte ihn jedes Mal zum Schweigen, wenn er Anstalten machte, etwas zu sagen.
»Lass ihn den ersten Schritt tun«, flüsterte sie.
»Das reinste Panoptikum«, sagte Josh. »Was ist das für ein Ding?«
»Das ist eine Dryade, du Idiot.«
»Ich dachte, das seien weibliche Bäume.«
»Und zwar sexy weibliche Bäume«, quengelte Josh.
»Und ich dachte, Dryaden seien Eichen«, wandte Alice ein. »Das da ist eine Birke.«
»Wie kommst du darauf, dass es kein weiblicher Baum ist?«
»Was immer es ist«, murmelte Josh, »es ist ein Volltreffer. Ein scheiß Baumding, Mann. Ein Scheißvolltreffer!«
Der Baum schritt schnell voran; fast hüpfte er auf seinen elastischen, knielosen Beinen. Schon bald mussten sie in einen Laufschritt verfallen, um nicht abgehängt zu werden. Doch als es bereits so aussah, als würden sie ihren bisher einzigen, vielversprechenden Hinweis verlieren oder ihm würdelos hinterrennen müssen, erkannten sie, wohin er unterwegs war.
HUMBLEDRUM
Zehn Minuten später saß Quentin in einer Nische in einer schummrigen Kneipe, vor sich einen bisher unangerührten Krug Bier auf dem Tisch. Zwar kam diese Entwicklung unerwartet, aber er hatte durchaus nichts dagegen. Kneipe, Tisch, Bier. Dies war eine Situation, mit der er umzugehen wusste, egal, in welcher Welt er sich gerade befand. Wenn er für irgendetwas trainiert hatte, nachdem er Brakebills verlassen hatte, dann für das hier.
Vor den anderen standen die gleichen Krüge. Es war später Nachmittag, wahrscheinlich so gegen halb sechs. Quentin konnte nur raten, denn woher sollte er es wissen? Hatte der Tag hier überhaupt vierundzwanzig Stunden? Warum sollte er? Trotz Pennys sturem Beharren darauf, dass der Baum sie hierher »geführt« habe, war es ziemlich klar, dass sie das Gasthaus auch von selbst gefunden hätten. Es war eine dunkle, niedrige Holzhütte mit einem Schild vor der Tür, das zwei Halbmonde zeigte. Wenn der Wind wehte, sorgte ein zartes kleines Uhrwerk dafür, dass sie einander umkreisten. Die Hütte schmiegte sich an einen kleinen Hügel, der sich über dem Waldboden erhob, ja, sie schien förmlich daraus hervorzuwachsen.
Als sie behutsam durch die Schwingtüren traten, fühlten sie sich wie im Themenraum eines Heimatmuseums. Das Amerika der Kolonialzeit schien lebendig geworden: ein langer, schmaler Raum mit Theke auf einer Seite. Quentin fühlte sich an die pseudo-historischen Saloons erinnert, die er durchstreift hatte, als er bei seinen Eltern in Chesterton war.
An einem Nebentisch saß eine Familie (so schien es) – ein großer, weißhaariger alter Mann, eine Frau von etwas über dreißig mit hohen Wangenknochen und ein ernstes kleines Mädchen. Offenbar Einheimische. Wortlos und kerzengerade saßen sie da und starrten deprimiert auf die leeren Tassen und Untertassen vor ihnen. Die zusammengekniffenen Augen des Mädchens verrieten, dass sie trotz ihrer Jugend bereits wusste, was Not bedeutete.
Die wandelnde Birke war verschwunden, wahrscheinlich in ein Hinterzimmer. Der Wirt hinter der Theke trug eine seltsame, altmodische Uniform, schwarz und mit zahlreichen Messingknöpfen besetzt. So ähnlich mussten die englischen
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