Filzengraben
Leute vorübergehen und sah sie nicht. Sie zog ein Taschentuch aus den Poschen und wickelte es sich um den Zeigefinger. Wickelte es wieder ab und wieder darum. Dann drehte sie sich um.
»Nein, das ist kein Missverständnis.«
Sie ging zurück zum Besuchertisch und griff nach dem Weinkrug, ohne Merckenich anzusehen. Der hatte keine Chance, ihr einzuschenken. Sie hatte es schon selbst getan.
»Das ist kein Missverständnis«, wiederholte sie. »Ich bin es, die nichts begriffen hat! Nicht Farina ist der Verbrecher, wie er mir weismachen will. Er ist es.«
Sie trank, verschluckte sich, hustete und trank gleich noch mal.
»Ich habe ihm ja immer alles brühwarm erzählt. Von Tilman, von dem falschen Aqua mirabilis. Jetzt verstehe ich auch Wollheims seltsames Gebaren. Deshalb hatte von Merzen es auch nicht eilig, Farina verhaften zu lassen. Er wollte, wie schlau er sich das ausgedacht hat!, den Rat dazu bekommen, sich gegen Farina zu stellen. Und deshalb hat er sich auch so schnell aus dem Staub gemacht, als er hörte, dass Giacomo weiÃ, wer Moritzâ Mörder sind.«
Anna fuhr hoch. »Giacomo! Ich habe ihm gesagt, dass der Lombarde hier bei uns ist. Wir sind alle in Gefahr.«
Es kostete Zeit, bis sie Merckenich die Zusammenhänge erklärt hatte.
»Wir müssen diese Männer kriegen, die sich Kastert und Zündorfer nennen. Und da ist noch etwas, das ich nicht verstehe: Was hat von Merzen gegen Herrn Dalmonte? Warum will er ihn mit aller Macht ruinieren?«
Hatte er sie nur heiraten wollen, weil er auf Dalmontes Geschäft spekulierte? Sie wäre beinahe darauf hereingefallen!
»Wie gut läuft seine Spedition?«, fragte sie laut.
Merckenich dachte nach. Er schien im Kopf den Umsatz der beiden Handelshäuser zu überschlagen.
»Wir sollten das herausfinden«, antwortete er. »Er wäre nicht der Erste, den der Neid blindwütig macht. Ich lasse Kall rufen. Er soll Männer abstellen, die von Merzen beobachten und nach diesen beiden Halunken suchen, und Euer Haus muss bewacht werden.«
Bevor Anna zu Bett ging, warf sie einen Blick in den Filzengraben. Gegenüber auf den Stufen unter dem Vorbau des Hauses »Zur gelben Lilie« erahnte sie zwei Gestalten. Sie grüÃten herüber, als sie Anna bemerkten, und zogen sich dann in dunkle Mauerschatten zurück. Auch im Haus Dalmonte waren alle alarmiert, obwohl sie nicht wussten, auf was sie eigentlich warteten. Hatten von Merzen und seine Männer einen neuen Anschlag geplant? Giacomo hatte völlig unglücklich geschaut, aber als er aufstand, um sich mit Matthias und Severin beim Wachen abzuwechseln, versagten ihm die Beine, er musste sich wieder hinlegen.
Durch das offene Stubenfenster sah Anna Sterne blinken. Es würde noch eine Ewigkeit dauern, bis es hell wurde. Was könnte von Merzen vorhaben, jetzt, wo er wusste, dass Giacomo im Haus war? Und wenn alles ruhig blieb in dieser Nacht? Und in der nächsten? Wie lange würde der Bürgerhauptmann seine Schützen postieren? Ihr wurde heiÃ, sie stieà das Bettzeug von sich. Und fror sofort wieder.
Sie zog die Decke über den Kopf und versuchte, an nichts zu denken. Aber von Merzens Gesicht lieà sich nicht vertreiben. Und auch nicht Giacomos. Sie sah ihn vor sich, diesen mageren Kerl mit den dunklen Augen, den langen Fingern, die nach dem Brot griffen, das die Köchin ihm ans Bett gestellt hatte. Die feine Narbe an der linken Schläfe, die man nur sah, wenn er die Haare mit einer leichten, ein wenig ungeduldigen Handbewegung zurückstrich. Giacomo. Ihre Zunge stieà an den oberen Gaumen, lautlos formte sie den italienischen Namen, schrieb ihn im Kopf auf ein unsichtbares Stück Papier.
Im Haus knarzte und knackte es. Auf der StraÃe klirrte etwas, von irgendwoher schrie ein Käuzchen. Oder war es ein später Heimkehrer, der sich einen Scherz erlaubte? Schlaf überfiel sie.
Der Schiffsjunge zog den Anker aus dem Wasser und lieà ihn wieder in die Tiefe fallen, hoch und runter, hoch und runter. Dabei schrie er, als ob er damit die schwere Gerätschaft leichter an Bord bekäme. Aber von Mal zu Mal wurde der Rhein zähflüssiger, bald glich er einem Moor, das den Anker nicht mehr freigab, und der Junge kreischte so laut, dass das kleine Mädchen sich die Ohren zuhielt. Der Junge, der aussah wie Giacomo Felice und so dünn war wie das Tau, an dem der Anker hing, hörte nicht auf
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