Filzengraben
Alles an dem Mann schien lang und dünn zu sein, selbst die Nase und der dünne Zopf, der ihm in den Rücken fiel. Auf der linken Stirnseite habe er eine Narbe. Und der verschlissene Rock habe um den Kerl herumgeschlottert wie ein Hausrock um ein Skelett. So hatte Kall geschrieben. Wortwörtlich.
Die ganze Beschreibung passte auf den welschen Hausierer von Mülheim, aber hatte der eine Narbe im Gesicht gehabt? Anna hatte auf seine Flaschen geachtet und auf seinen Gang. Sie hatte seine Augen gesehen, die seltsam niedergedrückt wirkten, wogegen seine Stimme im Gespräch mit ihr gereizt klang. Er hatte hellbraune Augen. Augen, die sie irritiert hatten. Die nicht aussahen wie die eines Mörders. Aber wie sahen die Augen eines Mörders aus? Anna lieà das Blatt sinken. Nein, eine Narbe war ihr nicht aufgefallen. Allerdings hatte er im Schatten eines Baums gestanden, vielleicht konnte man sie nur sehen, wenn ihm Licht ins Gesicht fiel.
»Es ist möglich, dass ich diese Person schon einmal gesehen habe«, sagte Anna. Sie blickte von Dalmonte zu Merckenich. Dann legte sie die Rosoli und das Scherbenpäckchen auf den Tisch und begann zu erzählen, von dem Tag, als sie den Welschen das erste Mal gesehen hatte, bis zu dem Augenblick auf dem Mülheimer Markt.
»Könnt Ihr Euch vorstellen, dass Farina zwei verschiedene Arten von Aqua mirabilis herstellt? Eines für Arme und eines für Reiche?«, fragte sie zum Schluss.
Dalmonte griff nach der grünen Flasche. Durch das Brillenglas hindurch studierte er aufmerksam den beigefügten Wasserzettel. Dann zog er den Korken heraus, roch an der Ãffnung, lieà ein paar Tropfen der Flüssigkeit in einen Becher fallen und füllte mit Wasser auf. Er trank in kleinen Schlückchen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Farina unterschiedliche Heilwässer fabriziert und diese dann in den gleichen Flaschen verkauft. Er würde sich damit selbst schaden. Dieses Wasser hier ist nicht schlecht, aber es ist nicht das Original. Es enthält zu viel Limettenöl, und da ist etwas Krautiges, das ich nicht kenne. Wahrscheinlich hast du recht, Anna. Dieser Mensch stiehlt sich die notwendigen Ingredienzien zusammen, mischt sie auf seine Art neu und verkauft das Ganze zu einem äuÃerst günstigen Preis. Es scheint sich zu lohnen, sonst würde er es nicht machen. Und da er die Flaschen unter Farinas Namen verkauft oder die Leute zumindest im Glauben lässt, es sei dessen Produkt, verkauft es sich doppelt so gut.«
Dalmonte trank den letzten Rest Wasser und spülte mit Wein nach.
»Wunderwasser gibt es wie Sand am Meer, jeder Quacksalber verkauft sie, egal, ob sie helfen oder nicht. Solange die Leute dran glauben â¦Â«
Er vollendete den Satz nicht.
»Ãbrigens muss so ein Zeug noch nicht einmal schlecht sein«, fuhr er dann fort. »Ich kenne Menschen, denen es geholfen hat. Schlimm ist nur, wenn böse gepanscht wird. Ich habe von Fällen gehört, wo die Flaschen fast ausschlieÃlich Brunnenwasser enthalten haben. Brunnenwasser und drei Tropfen irgendeines ätherischen Ãls. Das ist eindeutig Betrug.«
»Wenn Farina erfährt, dass da jemand mit seinem Namen Schindluder treibt, wird er toben«, sagte Merckenich.
»Zu Recht«, gab der Spediteur widerwillig zu. Dann überlegte er weiter.
»Wen suchen wir eigentlich? Einen Menschen, der Aqua mirabilis fälscht? Das könnte uns zunächst egal sein. Es betrifft uns aber in dem Moment, wo der Kerl es dabei auf unsere Waren abgesehen hat und noch dazu über Leichen geht. Ist der Welsche, den Anna gesehen hat, dieser Mann? Im Augenblick wissen wir nur, dass er derjenige ist, der Farinas Lieferknecht übertölpelt hat. Aber ist er auch der Fälscher? Denn etwas möchte ich zu bedenken geben: Zuerst klaut der Kerl, dann mischt er alles zusammen ⦠Mein Freund Feminis, Gott hab ihn selig, wird sich bei diesem despektierlichen Ausdruck wahrscheinlich im Grab umdrehen. Seiâs drum. Wo war ich stehen geblieben? Beim Mischen. Danach muss er sein Wunderwässerchen abfüllen, muss es verpacken und nicht zuletzt noch verkaufen. Und das soll er alles ganz allein machen? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Er schüttelte energisch den Kopf.
»Er wird Handlanger haben«, sagte der Ratsherr.
»Oder er ist der Handlanger«, erwiderte Anna. Unvorstellbar, dass diese armselige Figur, die an jenem
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