Fingermanns Rache
Kräfte und sprintete los. Projektion und Realität waren wieder im Einklang. Die Amazone strotzte vor Kraft. Sie schien den Boden nicht mehr zu berühren, so gewaltig waren ihre Sätze. Das Phantom wehrte sich gegen sein Schicksal. Es richtete sich noch einmal auf, es lief ein paar unsichere Schritte, es stürzte abermals und wurde dann von seinem langen Mantel begraben.
Arndt gab entkräftet auf. Mühsam schleppte er sich zur Wand und lehnte sich an. Gleich darauf ließ sich Marion schwer atmend neben ihm nieder. In ihren Händen hielt sie Waffe und Handschellen. Ihre Projektion gewann nun ein Eigenleben: Die Amazone drehte ihr Opfer mit dem Fuß auf den Rücken und spannte ihren Bogen. Das Phantom hob schützend die Arme, doch die Amazone kannte keine Gnade. Ihr Pfeil durchbohrte dessen Herz und tötete es auf der Stelle.
»Da kommen Sie bei mir ja noch glimpflich davon«, presste Marion hervor. »Wilbur Arndt, ich verhafte Sie wegen Anstiftung zum Mord, Entführung und Körperverletzung.«
Arndt hob entkräftet seine Hände. Offensichtlich wollte er etwas sagen, war dazu aber nicht in der Lage. Marion legte ihm die Handschellen an. Die Projektoren hatten sich inzwischen wieder zu ihrer Ausgangsposition bewegt und wiederholten das Geschehene. Man sah, wie Arndts Schatten entstand und wie er den Gang mit fliegendem Mantel entlanghetzte. Dann erschien die Amazone und verfolgte ihr Opfer, bis dieses vor Erschöpfung zusammenbrach und von der Amazone getötet wurde. Abermals fuhren die Projektoren in Ausgangsstellung.
Arndt spuckte auf den Boden. Augenscheinlich war er wieder zu Atem gekommen. »Diese Scheiß-Installation. Eigentlich hätte ich entkommen müssen.«
»Irgendwann hätte ich Sie auf jeden Fall erwischt.«
Jetzt lächelte Arndt. »Das weiß ich, Frau Tesic. Und um ehrlich zu sein: Es läuft alles nach Plan.«
Der freie Wille ist nur eine Illusion, Teil drei
Fünf Tage später. Justizvollzugsanstalt Moabit, Berlin
Marion Tesic passierte die Pforte des Gefängnisses. Ihr Gang war schleppend, Kopfschmerzen quälten sie.
Sie war hier, um Wilbur Arndt zu verhören. Dafür hatte sie eigens ihren Urlaub unterbrochen. Ein Urlaub, der keiner war. Zu sehr beschäftigte sie der Fall, es war ihr unmöglich, Abstand zu gewinnen. Ständig hatte sie sich durch Kai Mendel über die weitere Entwicklung informieren lassen. Sie hatte zum x-ten Mal die gleichen Akten studiert und war in ihren schlaflosen Nächten immer wieder die Ereignisse der letzten Tage durchgegangen. Was sie nicht ruhen ließ, war, dass Arndt die Geschehnisse bis zu seiner Verhaftung beherrscht hatte und dass selbst seine Verhaftung von ihm gewollt zu sein schien. Wie konnte ein Racheplan, angelegt auf mehrere Jahre, der die Verschwiegenheit von etlichen Helfern und das reibungslose Zusammenspiel unzähliger Faktoren verlangte, gelingen? Es waren zu viele Rädchen, die ineinandergreifen mussten. Angefangen beim Umbau des Landeskriminalamtes über die Entführung von Flaig, Rensch und Schortens Frau bis hin zu dem Verhalten der Staatsanwältin, die durch den Auftragsmord ihr eigenes Strafmaß festgelegt hatte.
Alles schien sich Arndts Willen unterzuordnen. Selbst Marion schien im Sinne Arndts zu handeln. Benutzte er sie, so wie er alle anderen benutzte? War sie in ihren Entscheidungen nicht frei? Waren seine Vorträge zum freien Willen mehr als eine willkürliche Interpretation wissenschaftlicher Fakten? War der freie Wille tatsächlich nur eine Illusion? War es ihre Entscheidung, Arndt zu verfolgen und zu verhaften, oder wollte sie das nur glauben? Tat sie, was sie wollte, oder wollte sie, was sie tat?
Diese Unsicherheit verschärfte Marions Kopfschmerzen, ließ kaum einen vernünftigen Gedanken zu. Marion wusste, dass sie Arndt in dieser Verfassung unmöglich verhören konnte. Er würde sie vorführen, sie der Lächerlichkeit preisgeben. Wenn sie jetzt keine Stärke zeigte, würde sie nie zur Ruhe kommen.
Bleib sachlich und nüchtern, mahnte sie sich. Arndt sitzt im Gefängnis, und du hast ihn überführt. Er hat eindeutig die schlechtere Position. Nicht du bist im Nachteil, sondern er. Der Fall ist so gut wie abgeschlossen. Du kennst weitestgehend die Hintergründe. Versuch so viel wie möglich aus Arndt herauszukriegen, und lass dich nicht auf seine Spielchen ein. Wenn die Akte Wilbur Arndt erst mal geschlossen ist, wirst du deinen Frieden schon wiederfinden.
*
Illsen erwartete Marion am Eingang zu Station A2, zu der auch die
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