Fingermanns Rache
war tatsächlich in Arndts Gewalt.
»Das ist wahr, und es ist traurig. Was bin ich nur für eine erbärmliche Existenz. Da arbeite ich jahrelang auf diesen Augenblick hin, und dann verlässt mich der Mut.«
»Du wirst jetzt ein guter Junge sein und die Fesseln lösen. Dann wirst du das bekommen, nach dem du dich sehnst.«
Ein Kichern drang aus dem Lautsprecher. Ein langes Kichern, das langsam erstickte. »Fast wäre ich auf mich selbst hereingefallen, fast hätte ich vergessen, wer Herr des Geschehens ist. Du hast keine Macht über mich, du kannst gar keine Macht über mich haben. Nur ich gestalte, und nur ich entscheide. Ich habe dir dein Paradies gezeigt, und ich habe es dir genommen. So, wie ich dir jetzt dein Leben nehme. Denn am Leben, ja am Leben, daran hängst du.«
Marion konnte Schortens Gesichtszüge nicht erkennen, dennoch verriet seine Haltung, wie sehr er litt. Die Situation war sehr heikel, hoffentlich behielt er seine Nerven. Schorten setzte sich eine Spur zu überstürzt in Bewegung.
Am Fuß der Treppe spähte Marion in die Dunkelheit. Außer den Fußspuren, die in einem Bogen hinter dem Meisterzimmer verschwanden, war nichts zu erkennen. Schorten befand sich ein Stück links vor ihr.
Blind wie Maulwürfe gehen wir den Weg, den Arndt für uns vorgesehen hat, dachte sie. Unser einziger Trumpf ist das Überraschungsmoment.
Die beiden umrundeten das Meisterzimmer. Am Ende der Halle konnten sie ein zittriges, sich bewegendes Licht erkennen, das bisher durch eine Art Trennwand verdeckt wurde. Marion kniff ihre Augen zusammen und machte neben der beweglichen Lichtquelle eine zweite aus. Diese strahlte das bleiche Gesicht von Schortens Frau an. Ihr kahl rasierter Kopf lag seitlich auf einem Tisch und wurde durch einen Riemen fixiert. Über ihrem Kopf thronte ein massiver chromglänzender Metallzylinder.
Aus Schortens Kehle drang ein ängstliches Jammern; er beschleunigte seine Schritte. Marion folgte ihm, ohne zu sehen, wohin sie trat. Arndts Stimme erreichte die beiden bruchstückhaft, wie vom Wind getragen war sie mal lauter, mal leiser.
»… bewegt sich gedämpft, sehr langsam, aber kontinuierlich. Erst ein leichter Druck, ständig zunehmend … ein Schädel überraschend elastisch … verformt zu einem Ei, die Hülle bricht, die reife Frucht platzt.«
Marion stieß gegen einen Gegenstand. Übernatürlich laut schepperte eine Blechdose über den Boden. Das zittrige Licht fiel auf die beiden, es gehörte zu einer Stirnlampe, die Arndt trug.
Schorten schrie: »Hände hoch, Polizei«, im gleichen Moment schoss er.
Beide Lichter erloschen. Schorten und Marion rannten los. Schorten stolperte, fluchte, richtete sich wieder auf. Marion überholte ihn, rannte ins Ungewisse. Schorten stolperte abermals, diesmal über eine Art Draht. Ein schleifendes Geräusch ertönte: Die Stanze hatte sich in Bewegung gesetzt.
Wieder ein Schrei. War es Schorten, war es seine Frau? Marion pflügte durch die Dunkelheit, ihre Hände tastend ausgestreckt, keine Orientierung, kein Halt. Wohin sich wenden? Der Schrei hallte in ihren Ohren, die Zeit verrann, die Maschine tat ihren Dienst. Nüchtern, gnadenlos. Was sollte sie aufhalten? Kein Schritt schien Marion voranzubringen. Sie taumelte durch das Nichts, und die Aussichtslosigkeit nahm ihr die Kraft. Resigniert blieb sie stehen. Es war sinnlos. Trotz der Dunkelheit schloss sie ihre Augen. Ein weiterer Schrei. Er brach sich an den Hallenwänden und wurde dann von einem trockenen, lauten Knacken übertönt. Der Schrei erstarb, Marion ging in die Knie.
Die Stille war unheimlich. Marion versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Eine Taschenlampe flammte auf. Schortens gebückte Gestalt zeichnete sich ab. Mit vorgehaltener Waffe setzte er bedächtig einen Fuß vor den anderen. Marion hielt sich aus dem Lichtkegel und folgte Schorten. Was sie jetzt sehen musste, wollte sie nicht sehen. Das Fundament der Stanze kam in Sicht. Auf dem Boden nasse Flecken. Öl? Blut? Dann der Tisch. Eine regungslose Gestalt, Umrisse eines Kopfes, daneben vereinzelte Stücke einer feuchtglänzenden Masse. Ein Wimmern, eindeutig von der Gestalt.
Bitte lass das nicht wahr sein, durchzuckte es Marion. Abermals das Wimmern. Wie viel mochte von Arndts Opfer noch übrig sein?
Jetzt das Gesicht im vollen Lichtschein. Verstörte, aber wache Augen. Klebrige Fruchtstücke auf intakter Haut. Das Opfer unversehrt, daneben eine zerquetschte Kokosnuss. Schortens Hand fuhr über das Gesicht, den
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