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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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Schädel. Entfernte die Fruchtstücke, wirkte seltsam riesenhaft, bräunlich, beinahe abstoßend. Abstoßend wie der Blick seiner Frau.
    Beim Haupttor fiel eine Tür ins Schloss. Marion riss sich los. Sie stammelte etwas von Verfolgung und rannte in Richtung des Geräuschs, wo ein entferntes Licht den Weg zu einem Notausgang wies.
    Jenseits des Haupttores schlug Marion feuchtwarme Luft entgegen. Ein loses Blatt Papier trieb über den Boden. Marion orientierte sich: Karge Notbeleuchtung, angeordnet in gleichmäßigen Abständen, sorgte nur unzureichend für Licht und ließ dennoch die gewaltigen Ausmaße der unterirdischen Anlage erahnen. Ein leicht gekrümmter Tunnel ohne Anfang und Ende passierte das Haupttor und den mächtigen Verladekran, dessen waagerechter Ausleger sich ihrem Blick entzog. Teile der Eisenbahntrasse wurden von der Notbeleuchtung erhellt, ebenso der breite Weg, der der Trasse folgte.
    In einiger Entfernung konnte sie einen fahrenden Lichtkegel ausmachen. Einen Lichtkegel, der ihr den Weg wies. Arndt wurde von einer Art Scheinwerfer begleitet, der eine übergroße Projektion des Fliehenden an die gemauerte Tunnelwand warf: der Körper leicht nach vorne gebeugt, den aufklaffenden Mantel wie eine riesige Fahne im Wind hinter sich herziehend, die Arme rhythmisch bewegend. Die Projektion verlieh Arndt eine Dynamik, die dieser gar nicht hatte. Fast schien er zu fliegen. Ein fliegender, nicht greifbarer Schatten, ein Phantom, dessen Konturen einem ständigen Wechsel unterlagen.
    Das ist also das Projekt Platon, dachte Marion und rannte los. Im selben Augenblick vernahm sie das summende Geräusch eines Elektromotors. Marion wandte ihren Kopf. Ein Kästchen, einem Projektor ähnelnd, folgte ihr. Es glitt an einem Metallprofil entlang. Darüber waren, über die gesamte Wand verteilt, weitere Profile angeordnet, die sich anscheinend über die komplette Tunnellänge erstreckten. Ein kaltes Licht flammte auf und projizierte ihre Gestalt, versehen mit Pfeil und Bogen, an die Wand. Marion erkannte ihren Schatten als Amazone wieder. Sie war also eine Amazone, der Inbegriff der Jägerin. Und Arndt sollte ihr Opfer sein.
    Die Distanz zu Arndt mochte einhundert Meter betragen. Marion war eine ausgezeichnete Läuferin. Wenn sie ihr Tempo hielt, hatte Arndt keine Chance.
    Gleichmäßig hallten ihre Schritte, alte Hinweisschilder flogen vorbei, eine Ratte huschte über den Weg und wurde verzerrt an die Wand projiziert. Die Verfolgung wurde zum Schauspiel. Sie mutierte zu einem Wettkampf zwischen Amazone und Phantom. Die Amazone: aufrecht, stolz und unbeirrbar – das Phantom: flink und gewieft, sich jedem Zugriff entziehend. Zeit verstrich, das Haupttor geriet außer Sichtweite, doch der Abstand wollte sich nicht verringern.
    Marions Zuversicht geriet ins Wanken. Wie konnte das sein? Arndt war Alkoholiker. Seine Konstitution war miserabel. Er musste einbrechen! Verbissen verschärfte sie ihr Tempo. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, Zweifel kamen auf. Verfolgte sie den Richtigen, hatte Arndt sie abermals hinters Licht geführt? Immer noch der gleiche Abstand, Marion kam in Atemnot. Ihr Abbild hingegen, die Amazone, kannte keine Schwäche. Körperhaltung und die fließenden Bewegungen von Armen und Beinen zeugten vielmehr von ungebrochener Kraft.
    »Reiß dich zusammen«, feuerte sie sich an und blickte nach vorn. Doch ihr Wille allein reichte nicht – ihre Schritte wurden kürzer –, sie war nicht die Amazone, sie drohte den Wettkampf zu verlieren.
    Eine Baugrube, gesichert durch rot-weißes Absperrband, versperrte den Weg. Das Band nötigte sie zu einem Sprung. Ihr Sprung geriet zu flach, sie blieb hängen und fiel bäuchlings hin. Für einen Augenblick schloss sie ihre Augen, ihr Herz hämmerte. So hatte es keinen Wert. Marion zog ihre Waffe und stützte sich auf ihre Ellbogen, ihre Hände zitterten. Sie schrie etwas Unsinniges, das wie »stehen bleiben« klang. Ihr Schrei wurde mehrfach von den Mauern zurückgeworfen. Arndt zeigte sich unbeeindruckt. Marion entsicherte und gab einen Warnschuss ab. Zeitgleich schoss die Amazone. Der Pfeil verließ die Sehne, wurde zu einem Raubvogel, suchte und fand sein Ziel und stürzte sich auf das Phantom. Die Wirkung blieb nicht aus: Das Phantom strauchelte – so wie auch Arndt strauchelte. Er griff sich in die Seite, er wurde langsamer, und er brach zusammen.
    Marion blieb keine Zeit, um über Arndts plötzliche Schwäche zu spekulieren. Sie mobilisierte ihre letzten

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