Fingermanns Rache
Dunkelheit blinkte das Licht des Rauchmelders. Keine Aussicht auf Schlaf.
Wie konnte Arndt aus der Untersuchungshaft heraus jemanden beauftragen? Wie hatte er das mit dem Timing hinbekommen? Er musste vorher von ihrem Besuch informiert worden sein, um seinen Komplizen zum rechten Zeitpunkt in ihre Wohnung zu schicken. Wer hatte von ihrem Besuch gewusst? Illsen, Mendel, die Gefängnisleitung, wer noch? Hatte der Eindringling einen Schlüssel? Die Tür war unbeschädigt. Gibt es Fingerabdrücke? Die Spurensicherung muss beauftragt werden, die Nachbarn befragt. Lass Arndts Telefonate überprüfen.
Marion wälzte sich von einer Seite zur anderen. Ihr Blick fiel immer wieder auf die digitale Anzeige des Radioweckers. Immer die gleiche Zeit. Absoluter Stillstand. Hatte Arndt die Zeit eingefroren?
Das taube Gefühl einer eingeschlafenen Hand weckte Marion. Sie zog sie unter ihrem Kopf hervor und massierte ihre Finger. Zwei Stunden waren vergangen. Die Erde drehte sich also doch noch. Leuchtendes Morgenrot fiel in das Zimmer – über Berlin ging die Sonne auf. Marion trank kaltes Mineralwasser und stellte sich ans Fenster. Die Schönheit des Schauspiels erreichte sie nicht. Ihre Gedanken waren wieder bei Arndt. Seine Äußerung ließ sie nicht los, hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. War sie sein Geschöpf? War sie wirklich nicht mehr als das Dossier, das er angelegt hatte?
Verärgert nahm sie einen weiteren Schluck, das Wasser schmeckte metallisch. Diese Gedanken hatte sie doch schon als Unsinn abgetan, warum verließ sie schon wieder den Boden der Realität? Warum ließ sie sich so sehr von Arndt beeindrucken?
Klar war, dass er weiterhin sein Spiel mit ihr trieb. Er hatte es sogar geschafft, sie aus ihrer Wohnung zu jagen. Arndt würde nie Ruhe geben. Er würde das Spiel endlos fortführen. Sie durch seine Verbrechen, durch die Rätsel, die er ihr stellte, vor sich hertreiben und damit auch an sich binden.
Was bezweckte er damit? Was war seine Motivation? Warum war ausgerechnet sie das Ziel seiner Nachstellungen? War dies eine bizarre Sympathiebekundung eines verkorksten Charakters, eine Art Stalking?
Um Arndts Handeln zu verstehen, musste sie sich in ihn hineinversetzen: Er war der Autor und sie sein Geschöpf, seine Protagonistin. Er hatte sie mühsam aufgebaut und hing an ihr. Mit ihr hatte er noch viel vor. Vielleicht eine Fortsetzung, eine Trilogie mit Marion Tesic, die eine Hassliebe mit dem Verbrecher Wilbur Arndt verbindet, die ihn unnachgiebig und mit aller Härte jagt, die ihn aber dennoch respektiert. Die Frage war also, wie konnte sich eine Figur dem Autor entziehen, wie konnte sie sich gegen seinen Willen aus der Geschichte schreiben? Wohl nur dann, wenn sie nicht mehr seinen Erwartungen entsprach, wenn Charakterzüge sich änderten, wenn Ehrgeiz durch Lebenslust, wenn Karrieredenken durch privates Glück ersetzt wurde.
Unvermittelt huschte ein Lächeln über Marions Gesicht. Das war die Lösung. Der Ermittlerin Marion Tesic war es unmöglich, Wilbur Arndt zu entkommen, der Privatfrau schon.
*
Noch am gleichen Morgen quittierte Marion ihren Dienst. Sie gab ihre Waffe und den Dienstausweis ab und ließ sich auch von einem perplexen und besorgten Kriminaldirektor Sandt nicht von ihrem Entschluss abbringen. Ihre persönlichen Sachen im Büro verschenkte sie. Was keiner haben wollte, warf sie weg.
Auf dem Parkplatz fing sie Kai Mendel ab. »Stimmt das? Hörst du wirklich auf?«, fragte er außer Atem. Er war gerannt.
»Es ist die einzig richtige Entscheidung«, antwortete Marion. Sie wirkte müde, aber irgendwie auch erleichtert. Zarte Fältchen zeigten sich in ihren Augenwinkeln.
»Es ist wegen deiner Wohnung, wegen Arndt, nicht wahr?«
»Ja. Er beherrscht mein Denken. Solange ich mich mit ihm beschäftige, wird er mich verfolgen. Er wird niemals Ruhe geben.«
»Aber er sitzt doch im Gefängnis. Und dort wird er ziemlich lange bleiben. Es gibt keinen Grund zur Sorge.«
»Das sehe ich nicht so. Immerhin hat er in meiner Wohnung eine Nachricht für mich platzieren lassen. Das ist kein Spaß, Kai.«
»Ja, sicher. Doch gerade das sollte deinen Ehrgeiz anstacheln.«
»Arndt denkt genauso, doch diesmal entspreche ich nicht seinen Erwartungen.«
»Du hängst also immer noch dem Manipulationsgedanken nach. Arndts Geschwätz vom freien Willen.«
»Ja. Wilbur Arndt ist mir nicht geheuer. Er erscheint mir größer, als er wirklich ist. Und eine Ermittlerin, die den Boden der Realität verlässt,
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