Fingermanns Rache
Sie mich in Ruhe. Ich will jetzt gehen.«
»Verstehen Sie denn nicht, Frau Tesic? Das Dossier, das sind Sie!«
Die Worte hallten in Marions Kopf, Arndts Gestalt füllte den ganzen Raum. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Marion.« Arndts Stimme bekam einen warmen Klang. »Dein gesamtes Leben, deine Kindheit, deine Jugend, dein Elternhaus, die Ausbildung, das ist alles nicht real, das ist reine Phantasie. Alles ist meinem Kopf entsprungen. Du bist nichts weiter als das Dossier, das ich angelegt habe. Du bist eine Figur in meiner Geschichte. Du bist mein Geschöpf!«
Marion glaubte zu fallen. Arndts Gesicht verschwamm, Erinnerungsfetzen holten sie ein:
Arndt am Ku’damm, als er Regen voraussagte, obwohl nichts darauf hindeutete.
Arndt, als er den freien Willen als Illusion brandmarkte.
Arndt, der genau zu dem Zeitpunkt erschien, als Bakker sie vergewaltigen wollte.
Arndt, der wusste, dass sie das Meer liebte.
Arndt, der trotz seiner Alkoholsucht immer Herr der Lage war.
Arndt, der über das Leben aller an dem Fall Beteiligten lückenlos Bescheid wusste.
Arndt, der von Anfang an durch seinen Fortsetzungsroman das Geschehen bestimmte und die Handlung vorwegnahm.
Alles sprach für Arndt, nur eines nicht:
Es war lächerlich.
Marion umfasste die Tischplatte und stoppte ihr Fallen. Arndt saß ihr noch immer gegenüber. Er war wieder auf Normalmaß geschrumpft. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Lächeln bereitete ihr Schmerzen. Schmerzen, die ihr guttaten. Denn die Schmerzen waren real.
»Wenn das so ist, Arndt«, hauchte sie, »dann wird der Geschichtenschreiber sicher verhindern können, dass ich jetzt aufstehe und ihn mit seinem armseligen Geschwätz allein lasse.«
»So ist es. Du kannst nicht gehen«, entgegnete Arndt.
»Na, dann.« Marion zog sich an der Tischplatte hoch. Ein glühender Nagel stach in ihr Gehirn. Marion taumelte, fiel aber nicht. »Sehen Sie, Arndt? Ich stehe. Und jetzt gehe ich.« Marion wandte sich ab, ihre Beine waren aus Wachs.
»Du bleibst hier!« Zum ersten Mal hörte Marion Arndt brüllen. »Du bleibst hier«, wiederholte Arndt, jetzt leiser, ungläubig.
Marion klopfte gegen die Tür, der Vollzugsbeamte öffnete.
»Das ist unmöglich.« Arndt war aufgestanden. Seine Notizen, all die leeren Blätter, fielen zu Boden.
»Bringen Sie ihn in seine Zelle«, befahl Marion, ohne sich umzudrehen. Der Beamte nickte. Marion verließ den Vorraum, die Tür fiel ins Schloss.
Im Gang musste sich Marion an der Wand abstützen; Illsen eilte auf sie zu.
»Was ist mit Ihnen? Sie sehen schrecklich aus«, sagte er besorgt und führte sie zu einer Bank.
»Ich bin gerade mit dem Leben davongekommen«, antwortete sie sarkastisch.
»Wie meinen Sie das?«
»Ist nicht so wichtig. Ich bin nur total erschöpft. Es war ein Fehler, in meinem Zustand hierherzukommen.«
»Und? Hat Arndt etwas gesagt?«
»Nichts von Bedeutung. Er wird uns nicht weiterhelfen. Er hat den Boden der Realität verlassen. Ich bin zwar keine Psychiaterin, aber Arndt wird Hilfe brauchen. Er ist eindeutig verrückt.«
»Inwiefern?«
»Er glaubt, wir seien seine Figuren. Wir seien Teil einer Geschichte, die er sich ausgedacht hat. Vermutlich haben ihn seine Rachepläne und das vollkommene Aufgehen in der Rolle des Obdachlosen dazu gebracht. Er hat alles bis ins Detail geplant, und alles ist so gekommen, wie er es wollte. Er hat immer das Geschehen bestimmt und Menschen wie Schachfiguren hin-und hergeschoben. Insofern sind wir wirklich Teil seiner Geschichte. Aber jetzt endet sein Einfluss. Und das will er nicht wahrhaben.«
»Dann müssen wir den Fall ohne Arndts Hilfe abschließen?«
»So sieht es aus. Wir werden einfach ein bisschen länger brauchen. Aber das ist mir jetzt gerade egal, ich will einfach nur noch nach Hause.«
»Soll ich Sie fahren?«
»Nein, danke. Ich nehme ein Taxi. Das kriege ich schon noch hin.«
»Wenn Sie meinen.«
Illsen schaute Marion lange nach. Das Verhör schien ihr mächtig zugesetzt zu haben.
*
Marion kühlte ihre Stirn an der Fensterscheibe des Taxis. Sie saß auf der Rückbank, im Radio lief leise »Mother Goose« von Jethro Tull. Es war das Lied, das Arndt mit Jeanne d’Arc beim Hackeschen Markt gespielt hatte. Die Lichter Berlins zogen an ihr vorbei, der Fernsehturm wies den Weg zum Alexanderplatz, in dessen Nähe sich ihre Wohnung befand. Eine typische Stadtwohnung: drei Zimmer, hohe, großzügige Räume, und als besonderer Luxus ein kleiner Balkon zum Innenhof, der
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