Fingermanns Rache
sollte aufhören.«
»Und was willst du jetzt tun?«
»Eine Auszeit nehmen, Abstand gewinnen. Hiddensee wäre eine Möglichkeit.« Marion lächelte. »Ja, Hiddensee wäre schön.«
»Und dann?«
»Mal sehen. Eine Arbeit suchen. Irgendetwas anderes machen. Ich bin jung, unabhängig. Es gibt viele Möglichkeiten.«
»Auf jeden Fall keine Polizeiarbeit mehr.«
»Genau. Alles andere als eine Polizistin ist für Arndt uninteressant.«
Ärgerlich schüttelte Mendel seinen Kopf. »Ich verstehe nicht, wie du dich so sehr in den Gedanken verrennen kannst, dass Arndt das Geschehen kontrolliert, dass er dir was anhaben kann. Gut, die Sache mit deiner Wohnung ist keine Lappalie, aber das werden wir schon noch aufklären. Dazu braucht es einfach ein bisschen Zeit. Illsen und ich werden das schon hinkriegen. Währenddessen kannst du ja deine Auszeit nehmen und den Abstand gewinnen, den du brauchst.«
»Vergiss es, Kai. Meine Entscheidung steht. Es gibt kein Zurück.«
Mendels Haltung versteifte sich. »Entschuldige, wenn ich es so deutlich sage, aber dein Verhalten ist vollkommen irrational. Ich glaube, du bist dir der Tragweite deiner Entscheidung nicht bewusst. Du gibst deine Arbeit auf, deine gesicherte Existenz. Du wirfst alles hin, aus einer Laune heraus.«
»Das stimmt nicht. Ich hab mir das letzte Nacht wohl überlegt. Nur so kann ich mich Arndt entziehen.«
»Dann eben aus einem emotionalen Ausnahmezustand. Wir haben für solche Situationen Spezialisten. Du solltest einen Psychologen aufsuchen – Verfolgungswahn kann durch Stresssituationen entstehen. Darüber habe ich erst gelesen.«
»Verfolgungswahn? Jetzt übertreibst du.«
»Wie würdest du deine Reaktion sonst bezeichnen? Eine Flucht vor einem intelligenten, aber dennoch gewöhnlichen Verbrecher. Du kündigst deinen Job, du wechselst den Wohnsitz.«
»Für dich ist mein Verhalten paranoid, für mich nur konsequent. Arndt kontrolliert das ganze Geschehen, er kontrolliert uns. Wir sind seine Figuren und gehorchen seinen Anweisungen. Erst wenn wir eine andere Rolle einnehmen, eine Rolle, die nicht seinen Vorgaben entspricht, können wir selbstständig handeln.«
»Paranoide Personen erschaffen sich ihre eigene Realität, die in ihrer Gedankenwelt logisch erscheint.«
»Willst du mir jetzt mit deinem angelesenen Halbwissen kommen?«
»Nein, ich will dir nur helfen.«
»Dann lass mich gehen. Es ist alles gesagt.« Marion war sichtlich erbost.
Mendel verzog unsicher sein Gesicht. Sein forsches Auftreten schien ihn selbst zu überraschen. »Es tut mir leid, Marion. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
»Ist schon gut, Kai«, lenkte Marion ein. »Die letzten Tage waren sehr anstrengend, ich will einfach nur weg.«
Mendel nickte und reichte Marion die Hand. Sein Händedruck war weich. »Du kannst mich jederzeit anrufen.«
»Ich weiß, Kai.« Mendel hielt ihre Hand eine Spur zu lang. Marion zog ihre zurück. Die Situation hatte etwas Unangenehmes. Wortlos stieg sie in ihr Auto und startete den Motor. Ohne aufzuschauen, fuhr sie los. Erst als sie Mendel im Rückspiegel sah, winkte sie. Mendel rührte sich nicht. Er wirkte seltsam leblos. Eine einsame Gestalt auf einem menschenleeren Parkplatz. Sieht es so aus, wenn sich eine Figur aus einer Geschichte verabschiedet?, fragte sich Marion.
*
Tags darauf sprach Peter Illsen auf Marions Mailbox. Wilbur Arndt habe sich zu einem umfassenden Geständnis bereit erklärt. Die einzige Bedingung sei, dass sie ihn besuche. Marion rief nicht zurück.
*
Drei Monate später wurde Wilbur Arndt vom Landgericht Berlin wegen Anstiftung zum Mord und der Entführung in drei Fällen schuldig gesprochen. Eine Haftstrafe musste er aber nicht antreten. Stattdessen wurde er in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert. Nach Meinung des Gerichts war er seelisch krank und stellte eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Das Gericht berief sich auf das Gutachten des behandelnden Arztes. Dieser bescheinigte Wilbur Arndt Realitätsverlust und Allmachtsphantasien. Der Angeklagte halte sich für einen Autor, der Menschen wie seine Figuren behandeln könne und diese, wenn es die Geschichte fordere oder wenn sie ihm einfach nicht mehr genehm seien, sogar ermorden ließe. Da für Arndt die Welt nicht real sei, könne er auch in seinem Handeln nichts Unrechtes erkennen. Jeder Autor würde so verfahren, und das Wichtigste sei doch eine spannende Geschichte, so Arndt.
In der Psychiatrie sah man Arndt niemals ohne Notizblock. Unablässig
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