Fingermanns Rache
früher zu kennen. Dieser verschlagene Blick, an wen erinnerte er ihn? Schorten schüttelte leicht seinen Kopf. Er kam nicht darauf. Nachdenklich setzte er sich neben Arndt und sagte: »Wir haben eine neue Nachricht erhalten. Sie müssen heute noch eine Geschichte daraus machen, die morgen gedruckt werden kann. Sie haben nicht allzu viel Zeit.«
»Nur nicht so schüchtern, schenken Sie mal ein«, forderte Arndt Schorten auf.
»Sie helfen uns nur deshalb?«, fragte dieser, während Arndt den Brandy hinunterschüttete.
»Klar. Das ist ein guter Stoff, auch wenn ihr mich ganz schön kurzhaltet. Aber es ist nicht nur das.«
»Sondern?«
»Na, das warme Zimmer mit eigener Security und natürlich die Tesic, der feuchte Traum des Reviers. Wo bleibt sie eigentlich?«
»Sie müssen mit mir vorliebnehmen.« Schorten legte den Ausdruck auf den Tisch. Arndt nahm jedoch keine Notiz davon.
»Ohne die Tesic keine Geschichte.«
»Frau Tesic ist schon zu Hause.«
Arndt begann sich wieder mit seinen Drahtfiguren zu beschäftigen – den Kommissar beachtete er nicht weiter.
»Hören Sie, Herr Arndt«, sagte Schorten gereizt. »Sie haben Ihr ganzes Leben verpfuscht, woran natürlich die anderen schuld sind. Sie wühlen in Mülltonnen und schlafen unter Brücken. Sie sehen tagtäglich die anderen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Und dafür hassen Sie die anderen. Und jetzt haben Sie endlich die Möglichkeit, das zurückzuzahlen, jetzt besitzen Sie die Macht, es den anderen endlich mal zu zeigen. Dass dafür ein Mensch gefoltert wird oder gar sterben muss, das kümmert Sie einen Dreck.«
Arndt grinste abfällig. »Schau, schau. Der nette Herr Kommissar zeigt sein wahres Gesicht. Fehlt nur noch, dass er etwas von Würde und Disziplin erzählt.«
»Sie kennen zwar die Worte, aber Sie wissen nicht, was sie bedeuten.«
»Wenn man als Obdachloser nicht diszipliniert ist, übersteht man keinen Winter.«
»Interessant. Und was für Überraschungen haben Sie noch auf Lager?«
»Es gibt nicht vieles, worüber ich mich aufrege. Aber Arroganz gehört dazu. Sie meinen, Sie stünden fest im Leben, Sie meinen, nichts könne Sie aus der Bahn werfen. Sie glauben, Sie könnten über andere urteilen, nur weil Sie morgens pünktlich aufstehen und Ihren Schreibtisch sauber halten. Ich sag Ihnen was.« Arndt drehte langsam seinen Kopf und blickte den Kommissar direkt an. »Es braucht nicht viel, um den Boden unter den Füßen zu verlieren. Jeder hat einen schwachen Punkt.«
»Natürlich. Aber deshalb muss man nicht gleich auf der Straße landen.«
»So, meinen Sie. Nehmen wir doch einmal Ihr Leben. Der Kommissar liebt seinen Beruf, er geht darin auf. Er kennt keinen Feierabend. Und wenn er wirklich mal die Schnauze voll hat, dann ist da ja noch seine Frau, die im trauten Heim auf ihn wartet. Die Hausschuhe stehen bereit, und das Essen ist gekocht, alles ist wohlgeordnet. Nur, wenn diese Ordnung verloren geht, dann bekommt der Kommissar ein Problem.«
»Sind Sie jetzt fertig?«
»Nein, ich fange gerade erst an. Ihre Tochter zum Beispiel. Geht in München auf die Schauspielschule und lässt sich zu Hause nicht mehr blicken. Dabei hätte sie doch Jura studieren können. Sie bringt alles durcheinander. Der schöne Lebensplan ist über den Haufen geworfen worden. Das war ein herber Tiefschlag.«
»Woher wissen Sie von meiner Tochter?«, zischte Schorten.
Arndt fuhr unbeirrt fort. »Und dann die Ehefrau. Immer für den Mann da. Sie opfert sich auf, sie klagt nie, sie ist perfekt. Doch was, wenn sie gar nicht das Heimchen am Herd ist, wenn sie ein Doppelleben führt? Was ist, wenn sie irgendwann den ganzen Krempel hinschmeißt und abhaut?«
Schorten stand auf. Sein Stuhl fiel polternd um. »Überziehen Sie nicht, Herr Arndt. Ich kann auch anders.«
Arndt lächelte. »Das sagt ihr Polizisten gerne. Aber deshalb müssen Sie nicht gleich die Beherrschung verlieren, Herr Hauptkommissar.« Arndt drehte Schorten den Rücken zu und begann ein Lied zu pfeifen. Dieser verharrte unschlüssig. Dann griff er nach der Nachricht und wandte sich zum Gehen.
»Die können Sie hier lassen«, sagte Arndt. »Wir stehen doch erst am Anfang.«
*
Gegen einundzwanzig Uhr fuhr Bernhard Schorten nach Hause. Wilbur Arndt hatte den zweiten Teil des Romans überraschend schnell fertiggestellt – der Text lag jetzt schon in der Redaktion des BERLINER TAGESGESCHEHEN s und konnte morgen erscheinen. Dennoch kam Schorten nicht zur Ruhe. Dieser Arndt hatte ihn
Weitere Kostenlose Bücher