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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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Tag.«
    »Die anderen?«
    »Na, die Bettler. Besorgen sich ’nen Rollstuhl und machen auf Mitleid. Hat Wilbur auch schon getan.«
    »Sie mögen Herrn Arndt nicht?«
    »Wilbur ist wie der Typ aus der Geschichte. Einer, der sich verwandelt. Einer, der gut und böse ist.«
    »Sie meinen Dr. Jekyll und Mr. Hyde?«
    »Genau. Darum halt ich auch seinen Schlafplatz frei. Erst frisst er mir mein Brot weg, und dann vertreibt er die Arschlöcher.«
    »Wen?«
    »War letztes Jahr. Ich hau mich hin, will aber noch was essen. War alles weg. Wilbur hat’s geklaut. Ich mache ihn zur Sau. Er verzieht sich irgendwohin. Dann kommen die Arschlöcher. Ne Bande Jugendlicher, die sich amüsieren wollen. Stoßen mich rum und verstreuen meine Sachen. Plötzlich steht Wilbur da. In der einen Hand ’ne Fackel, in der anderen einen Revolver. Unheimlich hat er ausgesehen. Hopst rum wie Rumpelstilzchen und haut einem den Revolver auf die Nase. Viel Blut, viel Geschrei. Die Bande hat sich schnell verzogen.«
    »Und der Revolver? Woher hatte er ihn?«
    »Keine Ahnung. War eh nicht geladen. Wilbur hat keine Angst. Vor nichts und niemandem. Wer dem krumm kommt, den räumt er weg.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Weiß nicht. Merkt man einfach. Wenn der sauer ist, kennt der nichts. Eben wie dieser Typ.«
    Marion Tesic zog ihr Notizbuch hervor und schrieb nur einen Satz auf: »Gefährlich wie Hyde.«
    Dann sagte sie: »Es heißt, Herr Arndt habe studiert.«
    »Studiert. Ja, ja, der Wilbur ist ein schlauer Kopf. Hat was von Biologie und Psychologie erzählt. Später war er bei ’ner Zeitung oder so. Hat auch Geschichten geschrieben. Hat aber keinen interessiert.«
    »Wo genau das mit der Zeitung war, wissen Sie nicht?«
    Max zuckte mit den Schultern.
    Marion hakte nach: »Hat er noch mehr erzählt? Was hat er sonst noch gemacht? Gibt es eine Familie oder Bekannte?«
    »Von einem Kinderheim hat er mal gefaselt«, antwortete Max nach kurzem Überlegen. »Wilbur war auf kaltem Entzug. Wollte mit dem Saufen aufhören. Hat Gespenster gesehen. Hat sich auf dem Boden gewälzt und geschrien.«
    »Was hat er geschrien?«
    »›Kinder vergessen nie. Ich krieg euch alle.‹ So in der Art. Dann hat er sich alles reingezogen, was rumstand. War Gott sei Dank nicht so viel, sonst hätte er sich zu Tode gesoffen. Als er ruhiger wurde, hat er gesagt, dass er deshalb saufe. Nur so könne er das Heim vergessen.«
    »Mehr nicht?«
    »Mehr nicht.« Max schaute sich unruhig um. Soeben war ein Geschäftsmann vorbeigegangen, der bei ihm sonst immer eine Zeitung kaufte. »Muss mich jetzt um mein Geschäft kümmern. Wenn Sie bei mir stehen, kauft kein anderer was.«
    »Oh, Entschuldigung.« Marion kramte in ihrer Tasche und streckte Max zehn Euro hin.
    »Wie viele?«, fragte er.
    »Das ist für Sie«, sagte Marion.
    »Nein, Sie haben nicht verstanden. Ich bin Verkäufer, kein Bettler.«
    »Tut mir leid, Herr Dreiklang«, sagte Marion verlegen. »Geben Sie mir fünf Stück. Ich habe einige Kollegen. Der Rest ist für Ihre Bemühungen.«
    »Sehr wohl, die Dame.« Max entblößte sein schadhaftes Gebiss. »Es war mir ein Vergnügen.«
    *
    Das Dienstgebäude des LKA 1, der Abteilung für Delikte am Menschen, lag in der Keithstraße. Die nächste U-Bahn-Station war der Wittenbergplatz. Als Marion Tesic den altehrwürdigen U-Bahnhof verließ, sah sie Arndt, wie er gerade eine Zeitung aus einem Mülleimer zog und in seinen Rucksack, der wie sein Mantel aus alten Armeebeständen stammte, steckte.
    Marion trat hinter einen Lkw, ließ aber Arndt nicht aus den Augen. Einen Beamten, der ihn beschattete, konnte sie nicht ausmachen. Sie hatte keine Zeit, sich über diese Nachlässigkeit aufzuregen, weil Arndt zur U-Bahn-Station strebte. Marion folgte ihm. Nach zweimaligem Umsteigen und dem Wechsel von der U-zur S-Bahn stieg Arndt bei der Prenzlauer Allee aus und verließ den Bahnhof. Auf dem Gehsteig schob er sich dicht an den Schaufenstern entlang und wechselte nur zur äußeren Seite, um die Abfallkörbe zu kontrollieren.
    Seiner Umwelt schenkte er kein Interesse. Passanten, die ihm nicht aus dem Weg gingen, rempelte er an. Manche beschwerten sich, andere wischten sich über ihre Kleidung und verzogen ihr Gesicht. Zehn Abfallkörbe später kramte Arndt eine Weinflasche aus seinem Rucksack und leerte sie fast bis zur Hälfte. Dabei verschluckte er sich und begann zu husten und zu würgen. Sein ausgemergelter Körper wurde durchgeschüttelt, und Arndt übergab sich in einen Abfallkorb.

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