Fingermanns Rache
den menschlichen Charakter an. Er kann Tendenzen nutzen, Neigungen verstärken. Die grundsätzliche Form kann er aber nicht ändern.
Loki starrte auf den Überwachungsschirm. Fabian bearbeitete mit einer Bürste die Wand, um das Gedicht vom Fingermann zu entfernen. Seine Mühen waren vergebens, die Farbe ließ sich nicht abreiben. Wenn er mit der gleichen Energie versucht hätte, sich zu wehren, dann hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Doch Fabian hatte seine letzte Chance vertan, und er wurde zu einer Randfigur, der nur noch die Opferrolle blieb. Eine Rolle, die Loki ihm gerne erspart hätte.
Die Ermittler rückten nun in den Mittelpunkt des Geschehens. Sie trieben die Geschichte voran, sie erfüllten alle Erwartungen. Der stämmige Hauptkommissar erwies sich hier als Idealbesetzung. Sein Sexualtrieb war ihm wichtiger als die Luft zum Atmen. Jetzt lag seine Leiche auf einer Müllhalde, und seine Kollegen konnten sich allein um alles kümmern. Aber selbst das geschrumpfte Team wurde weiter geschwächt, hatte der Chefermittler doch an zwei Fronten zu kämpfen, und eine dritte kam hinzu. Da blieb ihm nur noch der Rückzug ins Private.
Der Leitung beraubt, musste ein neuer Chef gefunden werden. Hierfür bot sich die ehrgeizige Oberkommissarin an. Sie war bestens geeignet. Doch traute man ihr das auch zu? Eher nicht. In Zeiten der Krise scheut man das Risiko.
Der Überwachungsschirm zeigte nichts Neues. Fabian mühte sich noch immer ab. Loki drückte den Knopf, und das rote Licht leuchtete auf. Überstürzt nahm Fabian Sack und Handschellen auf und befolgte die Regeln.
Er ist dressiert wie eine Ratte, dachte Loki. Auch in Freiheit wird er immer ein Gefangener sein.
Wilbur Arndt für das BERLINER TAGESGESCHEHEN . Fortsetzung folgt.
*
Tag sieben, Samstag, der 19. April
Auf der Müllhalde stank es erbärmlich. Die aufgehende Sonne wärmte nicht. Marion Tesic zog ihren Mantel zu und starrte auf die Leiche Bakkers. Sein aufgedunsenes Gesicht wurde von einem Lachen entstellt, das kurz vor einem Schrei stand. Seine blasse Haut hatte einen Stich ins Bläuliche. Über sein Bein kroch ein schwarzes Insekt.
»Kann man ihn nicht endlich wegbringen?«, fragte sie genervt.
Der Gerichtsmediziner, Dr. Mattek, antwortete: »Ich bin fast fertig, aber die Spurensicherung wird noch eine Weile brauchen.«
»Dann decken Sie ihn zumindest zu.«
»Ich kann gut verstehen, dass Sie der Tod eines Kollegen mitnimmt, aber Sie wissen genau, dass der Tatort nicht verändert werden darf, solange die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.«
Marion wandte sich ab und watete die Müllhalde hinunter. Dr. Mattek folgte ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Es ist für uns alle schwer, er war ein guter Kollege.«
Marion beachtete Mattek nicht und ging weiter. Bakkers Tod berührte sie nicht im Geringsten, vielmehr störte sie der Anblick, der an die letzte Nacht erinnerte. Bakker hatte sie in ihren Träumen verfolgt. Er lag auf ihr. Nackt. Sein Fleisch war teigig, seine Haut kalt und glitschig. Ihre Hände konnten ihn nicht greifen, rutschten immer wieder ab. Marion schüttelte sich, doch den Ekel, den sie empfand, wurde sie nicht los.
Am Rand der Müllhalde standen Schorten und Mendel. Beide waren gerade erst eingetroffen. Schorten sah müde und unordentlich aus, er trug Hemd und Jackett vom Vortag. Mendel hingegen wirkte frisch. Als Marion sich zu den beiden gesellte, unterbrachen sie abrupt ihr Gespräch. Marion hatte Schorten noch »… und Sie sind sicher?« sagen gehört.
Schorten wandte sich ihr zu. Seine Krawatte saß schief, er roch nach Alkohol. Marion konnte nicht glauben, dass Bakkers Tod ihm so zugesetzt hatte.
»Entschuldigen Sie meine Verspätung, aber meine Frau, sie ist immer noch nicht zurück.« Verwundert schaute Marion auf, und Schorten ergänzte: »Und das mit Karl, schrecklich.«
Mendel stimmte beflissentlich zu und versuchte, eine betroffene Miene zu machen.
»Haben Sie schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte Schorten.
»Der Tod trat zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr ein. Bakker wurde erdrosselt. Der Fundort ist nicht der Tatort. Seine Kleidung fehlt. Ansonsten ist die Spurensicherung noch bei der Arbeit.«
»Schlimme Sache.« Schorten nestelte an seiner Jackentasche, fand das Gesuchte aber nicht. »Hat jemand eine Zigarette?«
Marion und Mendel verneinten. Schorten massierte seine Nasenwurzel. Jetzt hätte er weitere Fragen stellen oder Anweisungen erteilen
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