Fingermanns Rache
Befragung.
»Betreuerin und Lehrerin. Zweiundvierzig Jahre lang.«
»Eine ganz schön lange Zeit«, versuchte Marion das Gespräch aufzulockern. Frau Eisen zeigte keine Reaktion, nicht einmal den Hauch eines Lächelns. Die andere Frau Eisen hatte Marion entschieden besser gefallen. »Sie leben allein hier. Ist Ihnen in den letzten Wochen etwas aufgefallen?«
»Ich war vier Wochen in Ahrenshoop zur Rehabilitation.«
»Ich weiß. Aber zuvor vielleicht. Irgendwelche Fremde, die Erkundigungen eingezogen, sich hier im Haus umgesehen haben?«
»Hierher verschlägt es niemanden. Fremde hätte ich sofort bemerkt.«
»Wem gehört eigentlich das Anwesen?«
»Dem Staat. Ich habe ein Mietrecht bis zu meinem Ableben. Vermutlich werde ich das aber nicht wahrnehmen können – Ihnen ist sicherlich der Zustand der Häuser aufgefallen. Man lässt die Gebäude absichtlich verrotten, so wie man alles andere verrotten lässt. Das hätte es früher nicht gegeben.«
»Kennen Sie einen Wilbur Arndt?«
»Nein.«
Marion zögerte kurz. »Ganz sicher nicht? Überlegen Sie bitte noch einmal.«
»Mein Gedächtnis ist ausgezeichnet. Ich habe noch nie einen Namen vergessen.«
»Und Johannes Berg?«
»Mir ist auch keine Person bekannt, die Johannes Berg heißt.«
Irritiert zeigte Marion das Bild von Wilbur Arndt und Johannes Berg. »Wissen Sie, wer das ist?«
Wieder kniff die alte Frau ihre Augen zusammen und starrte auf das Bild.
Die erkennt gar nichts, stellte Marion fest. Ralf Mertens hatte ein Einsehen und schob Miriam Eisen beiläufig eine Lupe zu. Genauso beiläufig nahm sie sie und begann, nun klarer sehend, das Foto eingehend zu studieren. »Ich kenne die beiden Kinder nicht.«
»Das Bild ist von schlechter Qualität, vielleicht liegt es daran.«
»Die Qualität ist ausreichend, Frau Kommissarin. Ich kann Ihnen versichern, dass ich die Jungs noch nie gesehen habe.«
Hörbar atmete Marion aus. Die Sache schien vollkommen aus dem Ruder zu laufen. Einen letzten Versuch hatte sie aber noch. Marion zog eine aktuelle Aufnahme Arndts hervor. »Kennen Sie den Herrn?«
Widerwillig bemühte die alte Dame abermals ihre Lupe. »So tief ist er also gesunken, der Herr Athlon. Geschieht ihm recht«, sagte sie abfällig.
»Athlon?«, fragte Marion konsterniert.
»Ja. Konstantin Athlon, ein ehemaliger Heimbewohner. Ich kann mich deshalb so gut an ihn erinnern, weil er mich kurz vor der Annexion durch die BRD aufgesucht und mir wilde Vorhaltungen gemacht hat. Er wollte mich, beziehungsweise das Waisenheim, für sein verpfuschtes Leben verantwortlich machen. Dabei hat sein Abstieg offensichtlich damals erst begonnen.«
»Können Sie ihn mir auf einem der Jahrgangsbilder zeigen?« Marion streckte Frau Eisen die Aufnahmen aus dem Archiv entgegen.
Ohne sie groß zu beachten, sagte Frau Eisen: »Sie waren in meinem Archiv. Es ist verschlossen. Ich glaube nicht, dass Sie das dürfen, Frau Tesic.«
»Sie können sich bei meinem Vorgesetzten beschweren. Meine Karte hat Herr Mertens. Ich wäre Ihnen jetzt aber sehr verbunden, wenn Sie mir weiterhelfen würden.«
Miriam Eisen flüsterte etwas, das entfernt nach »Nazimethoden« klang, und begutachtete das Bild. »Hier, das ist Konstantin Athlon«, sagte sie unwirsch und zeigte auf einen Jungen mit hängenden Schultern. »Und der daneben, das ist sein Bruder Konrad.«
Marion nahm das Bild wieder an sich. Was sie sah, irritierte sie noch mehr als die Tatsache, dass Wilbur einen Bruder hatte. Sie sah zwei Jungs von gleicher Größe. Der eine eher schüchtern und schwächlich, der andere kräftig und selbstbewusst. Doch trotz unterschiedlicher Körperhaltung und Ausstrahlung glichen sie sich wie ein Ei dem anderen. »Es sind Zwillinge«, stellte sie tonlos fest.
»Ja«, bestätigte Miriam Eisen. »Konstantin und Konrad Athlon. Beide Jahrgang 53. Beide auf ihre Art Quertreiber. Konrad ist 1966 gestorben. Konstantin blieb bei uns, bis er auf eigenen Füßen stehen konnte.«
»Wie ist Konrad gestorben?«
»An Hirnhautentzündung. Ein Zeckenbiss, wenn ich mich recht erinnere. Die Sterbeurkunde befindet sich im Archiv – falls Sie nicht schon alles konfisziert haben.«
Die spitze Bemerkung ignorierend, fragte Marion: »Gibt es zu den beiden noch weitere Unterlagen?«
»Konrads Akte wurde nach dessen Tod an eine andere Stelle weitergeleitet. Konstantins ist irgendwann in den Siebzigern verschwunden. Wie und warum weiß ich nicht.«
Eine ähnliche Geschichte wie die der anderen Frau Eisen,
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