Fingermanns Rache
hinabgestoßen, wo er sein Ende an der geschickt postierten Mistgabel gefunden hat. Was sie nicht wusste, als sie danach ihre Bloody Mary, angereichert mit dem Blut des Toten, trank: Der gerade Verschiedene hatte das Zusammenleben mit ihr gehasst. Er hatte es so sehr gehasst, dass er sich mangels Alternativen vergiftet hatte. Er wäre keine zehn Minuten später sowieso verschieden. Der ganze Aufwand war also umsonst. Zu allem Unglück hatte sie sich jetzt ebenfalls vergiftet. Sie starb kurz nach ihrem Mann. Ist das nicht wunderbar?«
»Ich bezweifle, dass die stark verdünnte Giftmenge gereicht hätte, die Frau zu töten.«
»Oh, Sie sind aber eine ganz Genaue. Aber kein Wunder bei Ihrem Beruf.«
»So ist es. Und nun habe ich Ihnen auch lange genug zugehört. Ich bin hier nämlich nicht zum Spaß. Wenn Sie jetzt einfach meine Fragen beantworten würden, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
»Das klingt ja richtig spannend. Bin ich etwa ein wichtiger Zeuge in einem undurchsichtigen Mordfall? Geht es um organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Waffenschieberei? Komme ich ins Zeugenschutzprogramm?«
»Herr Mertens, bitte. Ich frage, Sie antworten. So schwer kann das doch nicht sein. Okay?«
»Okay.«
»Also, was tun Sie hier?«
»Sollten Sie der Form halber nicht erst nach meinem Namen und Alter fragen?«
Marion verzog entnervt ihr Gesicht.
»Ist ja schon gut. Dennoch nenne ich die unumgänglichen Formalitäten. Also, fürs Protokoll. Name: Ralf Mertens. Alter: einundfünfzig Jahre. Staatsangehörigkeit: deutsch. Wohnhaft in: Tromptow. Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich Krankenpfleger bei der katholischen Sozialstation. Ich betreue hier in diesem Haus dreimal am Tag Frau Eisen.«
»Miriam Eisen?«
»Genau die.«
»Wo ist sie?«
»Na, in ihrer Wohnung. Der gleiche Stock, nur gegenüberliegende Ecke.«
»Und diese Wohnung?«
»Ist, seit ich hier tätig bin, verlassen.«
»Seit wann betreuen Sie Frau Eisen?
»Ein halbes Jahr ungefähr. Von ihrem Schlaganfall hat sie sich nicht mehr erholt.«
»Schlaganfall?«
»Ja. Die linke Seite will nicht mehr so recht. Sie braucht oft den Rollstuhl.«
»Das kann nicht sein. Ich kenne Frau Eisen. Sie ist zwar etwas verschroben, aber körperlich fit. Erst letzten Donnerstag habe ich sie gesehen.«
»Dann meinen Sie jemand anderen. Miriam Eisen wurde gestern aus dem Krankenhaus entlassen. Sie war dort vier Wochen zur Reha.«
»Das wird ja immer verrückter«, sagte Marion konsterniert. »Sie wissen nichts von jemandem, der hier in dieser Wohnung gelebt hat, der hier irgendwelche Umbauten durchgeführt hat?«
»Nein, da ist mir nichts bekannt. Ich war allerdings die letzten vier Wochen auch nicht hier. Zu der Wohnung kann ich aber sagen, dass Frau Eisen hier ihr Archiv hat. Ab und zu schickt sie mich rüber, um ihr eine Akte zu holen.«
»Kann ich Frau Eisen sprechen?«
»Natürlich. Sie freut sich über jeden Besuch, auch wenn sie es nicht zeigt. Kommen Sie doch gerade mit.«
Frau Eisen – die echte Frau Eisen? –, saß im Rollstuhl an einem massiven Tisch in ihrem Wohnzimmer. Schwere, dunkle Eichenmöbel ließen den Raum kleiner wirken, als er wirklich war. Das Licht brannte, draußen schien die Welt unterzugehen. Ralf Mertens stellte Marion vor. Die alte Dame bot ihr und Mertens einen Stuhl an. Ihre Stimme war herrisch, um ihre schmalen Lippen lag ein verbitterter Zug. Marion verlangte Frau Eisens Personalausweis.
»Zuerst weisen Sie sich aus«, entgegnete die alte Dame brüsk. Sie rührte keinen Finger, als Marion ihr den Dienstausweis reichte. Marion legte ihn auf dem Tisch ab. Ohne das Dokument zu berühren, begutachtete Frau Eisen es ausführlich. Dabei kniff sie ihre Augen zusammen. Marion bezweifelte, dass die alte Dame etwas erkennen konnte. Nach einiger Zeit richtete sie sich auf und griff nach einer altmodischen Handtasche aus schwarzem Leder. In dieser kramte sie vorsichtig, immer darauf bedacht, die Behinderung ihres linken Armes zu überspielen. Bei jeder auffälligen Bewegung zuckten ihre Mundwinkel.
Endlich hielt sie das Gesuchte in der Hand. Nach einem abermaligen Kontrollblick auf Marions Ausweis sagte sie: »Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein.« Dann schob sie mit ihrer rechten Hand die beiden Dokumente über den Tisch.
»Da haben sie recht«, bestätigte Marion und notierte Frau Eisens Ausweisnummer. Diesmal wollte sie ganz sichergehen.
»Sie waren Betreuerin im ehemaligen Kinderheim Die Brücke?«, begann Marion die
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