Fingermanns Rache
Marion einen Augenblick, bis sie den Grund ihres Anrufs nennen konnte. Sie gab die Adressen der ehemaligen Heiminsassen durch und forderte deren Telefonnummern an. Außerdem ließ sie Miriam Eisen und Ralf Mertens überprüfen.
Danach stritt sie sich mit dem Sachverständigen herum, der die Unterlagen über Wilbur und Johannes als echt bestätigt hatte. Eine weitere Überprüfung würde dauern, hatte er gesagt, außerdem würde sie nichts bringen, da man in seiner Abteilung gewissenhaft arbeite, was man bekanntlich nicht von allen Abteilungen des LKA behaupten könne.
Die Kollegen der hiesigen Polizei waren da schon freundlicher. Sie versprachen, gleich morgen die Wohnung der falschen Miriam Eisen untersuchen zu lassen. Auch eine Fahndung nach dieser Person gaben sie heraus.
Den Versuch, Peter Illsen zu erreichen, gab Marion bald auf. Entweder wollte ihr neuer Chef nicht mit ihr sprechen, oder er hatte wirklich so viel zu tun. Dafür meldete sich die junge Kollegin überraschend schnell zurück. Frau Eisen und Herr Mertens seien ordnungsgemäß gemeldet. Außerdem konnte sie schon eine große Anzahl der gesuchten Telefonnummern nennen, die fehlenden würde sie nachreichen.
Die beiden waren also keine Betrüger, stellte Marion zufrieden fest. Diesmal hatte sie sich nicht in die Irre führen lassen.
Sie machte sich daran, die Liste der Heiminsassen abzutelefonieren. Fast alle Angerufenen gaben bereitwillig Auskunft. Sie bestätigten die Aussage von Frau Eisen. Eine ehrbare Anstalt sei Die Brücke gewesen, die Erziehung autoritär, aber niemals menschenverachtend. Ja, die Athlon-Brüder hätten sie gekannt, den Tod des einen hätte der andere nie richtig verkraftet. Nein, Misshandlungen seien nie vorgefallen. Ja, die Arbeit an den Stanzen sei gefährlich gewesen. Ja, es habe Unfälle gegeben. Nein, niemand sei auf eine solche Art bestraft worden. Manche waren kurz angebunden, andere hatten das eine oder andere auszusetzen, aber keiner klagte über ernst zu nehmende Missstände.
Nun wandte Marion sich den als tot gekennzeichneten Personen zu. Schon der erste Anruf erwies sich als äußerst interessant. Ein Herr Josh Petersen erklärte, dass er noch ziemlich lebendig sei und durchaus etwas zu erzählen habe, aber nicht am Telefon. Marion lächelte – von wegen verstorben, da hatte sie doch den richtigen Riecher gehabt. Sie machte mit Petersen einen Termin aus: morgen Mittag auf Hiddensee.
Ihr Abendessen nahm sie auf ihrem Zimmer zu sich. Eine Pizza und eine Flasche Rotwein. Ein Schwedenofen spendete üppige Wärme, und das unaufhörliche Prasseln des Regens hatte etwas Versöhnliches. Marion fühlte sich in der Abgeschiedenheit wohl. Sie kam sich vor, als wäre sie ganz allein auf dieser Welt – sie in diesem Zimmer, das wie eine kleine Arche durch ein dunkles regengepeitschtes Meer trieb.
Um ihre Gedanken zu ordnen, fertigte sie ein Memo an. Die Überschrift »Verwirrung in Tromptow« rang ihr ein Lächeln ab. Darunter notierte sie:
Stichpunkte zu Frau Eisen, Wilbur Arndt und dem Kinderheim:
• Das Gedicht vom Fingermann wird veröffentlicht.
• Die falsche Frau Eisen meldet sich daraufhin.
• Sie tischt mir und Bakker eine Geschichte auf, die Missstände im Kinderheim anprangert. (Decken sich mit Angaben einer Bäuerin, die ich nach dem Weg fragte. Ihre Adresse ist notiert.)
• Die echte Frau Eisen bestreitet diese Missstände. Ihre Version wird von ehemaligen Heiminsassen bestätigt.
• Mir werden gefälschte Unterlagen über Wilbur Arndt und Johannes Berg ausgehändigt. (Muss nochmals von der Kriminaltechnik überprüft werden.) Johannes Berg existiert nicht, ist eine Erfindung Arndts. Er steht wohl für seinen Bruder Konrad (siehe unten).
• Die echten Dokumente sind verschwunden (wurden wahrscheinlich vorsätzlich entfernt).
• Wilbur Arndt heißt in Wahrheit Konstantin Athlon. (Sein Ausweis muss eine gute Fälschung sein.) Er hatte einen Zwillingsbruder namens Konrad Athlon, der 1966 an Hirnhautentzündung gestorben ist.
Frage: Was wurde mit dem Auftritt der falschen Frau Eisen bezweckt?
Mögliche Antworten:
• Sie arbeitet im Auftrag Arndts. Er will auf Missstände im Kinderheim, die vertuscht wurden, aufmerksam machen. Eventuell strebt er eine Untersuchung von staatlicher Seite an.
• Arndt will seine wahre Identität geheim halten – Personen, die ihn von früher kennen, könnten seine Pläne gefährden.
• Arndt spielt mit der Wahrheit, er stellt die Dinge so dar, wie er sie
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