Fingermanns Rache
Damals schon, kurz nach der Vereinigung, als sie noch die konspirativen Treffen besuchen musste, empfand sie es als lächerlich, wenn man mit leuchtenden Augen von ihrem Vater erzählt und die alten Zeiten heraufbeschworen hatte. Was zählte, war Macht. Macht über Menschen und deren Schicksal. Weiter nichts.
Tromptow zwei
Am selben Tag
Bei ihrem letzten Besuch hatte die Sonne die Felder zum Leuchten gebracht, jetzt bewältigten die Scheibenwischer kaum die Regenmassen. Marion Tesic war spät dran. Maximal drei Stunden hatte sie eingerechnet. Nun war schon Mittag, und sie stand immer noch in der Schlange, die sich auf der Bundesstraße gebildet hatte. Die Autobahn war komplett gesperrt, und die einzige Umgehung führte ausgerechnet an Tromptow vorbei.
Ihr Handy war eingeschaltet, und sie wartete ungeduldig auf einen Anruf von Kai Mendel, der sie über die neuesten Entwicklungen informieren sollte. Im Radio hatte sie von der Pressekonferenz gehört. Anscheinend hatte die Staatsanwältin eine ziemlich unglückliche Figur abgegeben, was Marions Laune erheblich verbesserte. Ansonsten wurde unablässig über die Entführung berichtet. In Sondersendungen wurde darüber diskutiert, ob Polizei und Presse sich richtig verhalten hatten. Experten gaben schlaue Kommentare ab, und Reporter wurden durch ganz Berlin gejagt, um über jede erdenkliche Industrieruine zu berichten, selbst wenn es nichts zu berichten gab. Außerdem streiften ganze Heerscharen von Neugierigen durch die Hauptstadt, in der Hoffnung, die vom BERLINER TAGESGESCHEHEN ausgesetzte Belohnung zu ergattern. Mehrmals hatte es falschen Alarm gegeben, weil man Jugendliche, Obdachlose oder irgendwelche Wichtigtuer für die Gesuchten hielt. Vereinzelt war es zu Handgreiflichkeiten gekommen, die Bereitschaftspolizei konnte über mangelnde Beschäftigung nicht klagen. Und dann hatten noch irgendwelche fixen Köpfe im Internet eine Plattform erstellt, die die besten Fortsetzungen der Entführungsgeschichte prämierte. Unter www.brings-zu-ende.de konnte jeder seine Version ins Netz stellen. Arndt hatte sicher seine Freude an dem Chaos.
Endlich konnte Marion auf die Landstraße abbiegen, die zu dem ehemaligen Kinderheim führte. Das verlassene Hauptgebäude auf dem Hügel war durch den Regenschleier kaum zu erkennen. In den Schlaglöchern hatten sich große Pfützen gebildet, und die Wiese links von der Zufahrtstraße war zu einem See geworden. Marion parkte dicht neben dem Betreuerhaus. Warum hatte sie nur keinen Schirm dabei?
Missmutig stellte sie den Kragen ihrer Sommerjacke hoch und verließ das Auto. Augenblicklich durchdrang Regen den dünnen Stoff. Marion rannte zum Eingang. Zum Glück war die Tür nicht verschlossen, und sie konnte eintreten. Wie beim ersten Mal herrschte im Haus diffuses Licht. Marion schüttelte ihre nassen Haare und zog ihre Jacke aus. Kalt war es. Im Auto hatte sie einen warmen Pullover – wie idiotisch.
Die Aussicht auf einen heißen Tee bei Miriam Eisen ließ sie den Gedanken verwerfen, nochmals zu ihrem Wagen zurückzukehren. Fröstelnd stieg Marion die ausgetretene Steintreppe hinauf. Hoffentlich war die alte Dame auch zu Hause. Da sie keinen Telefonanschluss besaß, war eine Terminabsprache nicht möglich gewesen.
Das Erste, was Marion auffiel, war, dass Miriam Eisens Türschild fehlte, das Zweite, dass der Kasten mit den Stoffblumen entfernt worden war. Die Tür glich den anderen in diesem Stockwerk. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand wohnte.
Marion klopfte und rief Miriam Eisens Namen. Außer dem Prasseln des Regens war kein Geräusch zu vernehmen, auch nicht, nachdem sie energischer angeklopft hatte. Misstrauisch geworden, drückte Marion auf die Türklinke – die Tür gab nach, sie war nicht verschlossen. In der Wohnung war es dunkel. Marion tastete nach dem Lichtschalter und rief abermals nach der alten Dame. Ein trübes Licht flackerte auf und erhellte einen vollkommen verwahrlosten Gang. Schimmlige Tapeten hingen in Fetzen von der Wand, der Dielenboden war zum Teil aufgerissen, kaputte Möbel versperrten den Weg.
»Das kann nicht sein«, flüsterte Marion. Wo waren nur all die Fotos geblieben, wie konnte sich diese gepflegte Wohnung innerhalb von ein paar Tagen in diese Müllhalde verwandeln? Vorsichtig schritt sie den Gang entlang, ihre Hand glitt über die raue Wand. Das Wohnzimmer und die anderen Räume boten das gleiche Bild. Keine Spur von Miriam Eisen, nur Unrat und Staub.
Am Ende des Ganges stieß sie auf
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