Fingermanns Rache
dachte Marion. Hier ein Bruder, dort ein Freund. Beide verstorben. Was sollte das Ganze? Warum Lüge und Wahrheit vermischen? Gab es in diesem Fall überhaupt eine Wahrheit? Wie weit konnte sie der Aussage dieser alten Frau vertrauen?
»Der Junge auf dem Bild hat aber keine Ähnlichkeit mit Wilbur Arndt«, sagte sie zweifelnd.
»Sie meinen Konstantin Athlon«, berichtigte Miriam Eisen. »Nun, ich hätte ihn auch nicht wiedererkannt. Aber er wusste Dinge, die kein anderer wissen konnte, und er hatte diese Verletzung an der Hand. Es gibt keinen Zweifel, Frau Kommissarin, die Person auf dem Bild ist Konstantin.«
»Sie spielen auf den fehlenden Finger an seiner rechten Hand an«, stellte Marion fest. »Dann sagt Ihnen sicher auch das Gedicht vom Fingermann etwas.«
»Fingermann?« Frau Eisen sprach das Wort gedehnt aus. »Fingermann? Nein.«
Marion wusste sofort, dass die Frau log.
»Und wie hat Konstantin seinen Finger verloren? Man spricht von Unregelmäßigkeiten im Heim, von Misshandlungen.«
Der linke Arm der alten Frau begann leicht zu zittern, ihre Stimme wurde schrill. »Alles Gerüchte ohne Substanz. Propaganda von den Besserwissern. Diese Leute sind an dem heutigen Chaos schuld. Damals hatte jeder Arbeit, jeder war versorgt. Nur ein paar Unzufriedene haben alles in den Dreck gezogen. Wenn Sie wirklich an Misshandlungen interessiert sind, dann müssen Sie in den ach so sauberen Westen gehen. Jeden Tag wird darüber berichtet, jeden Tag erfährt man mehr über diese scheinheiligen Pfaffen und die aufgeklärten Erzieher. Glauben Sie mir: Hierin zeigt sich die ganze Verkommenheit des Westens, im Sozialismus hat es so etwas nicht gegeben.«
Frau Eisen schloss kurz die Augen und atmete tief durch. »Das Heim war ein gutes Heim. Aber natürlich war auch hier nicht alles perfekt. Die Sicherheitsvorkehrungen an den Stanzen entsprachen zwar dem damaligen Standard, waren aber bei Weitem nicht ausreichend. Dass Konstantin seinen Finger verlor, war einfach ein schrecklicher Unfall, mehr nicht. Und falls Sie mir nicht glauben wollen, dann fragen Sie doch ehemalige Heimbewohner. Die werden Ihr verschobenes Bild schon zurechtrücken. Für die war es eine wertvolle Zeit hier. Zu vielen habe ich heute noch Briefkontakt.«
»Und Dr. Kronthal?«
»Ein Pionier der modernen Pädagogik. Er war ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Der beste Lehrer und Heimleiter, den dieses Institut jemals hatte.« Die alte Dame hielt kurz inne. Ein entrücktes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ein Lächeln, das so gar nicht zu ihr passen wollte.
Interessiert beobachtete Marion ihre Verwandlung. Die Frau schien durchaus menschliche Seiten zu haben. Versöhnlich sagte Marion: »Ich würde gerne Ihrem Vorschlag nachkommen und Kontakt zu den Ehemaligen aufnehmen. Können Sie mir da weiterhelfen?«
Die alte Dame nickte und wandte sich an Ralf Mertens, der die Befragung fasziniert verfolgt hatte.
»Herr Mertens. Sechster Gang links, untere Reihe, Ordner ES -50/55. Die Verstorbenen sind mit einem Kreuz gekennzeichnet. Gehen Sie mit Frau Tesic ins Archiv. Sie kann die Adressen abschreiben. Und stellen Sie den Ordner danach wieder an den richtigen Platz.«
Mertens nickte eilfertig und stand auf, Marion ebenfalls.
»Und Sie, Frau Tesic«, Miriam Eisen suchte Marions Blick, »Sie will ich erst wieder sehen, wenn Sie die Wahrheit herausgefunden haben. Dann können Sie sich bei mir entschuldigen.«
Kaum hatten die beiden die Wohnung verlassen, da platzte es aus Ralf Mertens heraus: »Sie fahnden nach Wilbur Arndt? Dem Arndt, der diesen Fortsetzungsroman geschrieben hat, der Typ, der der Polizei entwischt ist?«
»Kein Kommentar.«
»Kein Kommentar? Toll! Dann stimmt es also. Was hab ich für ein Glück. Aber warum suchen Sie ihn hier in dieser Einöde? Was hat Wilbur Arndt mit dem Kinderheim zu tun?«
»Herr Mertens, können Sie nicht einfach das machen, was Frau Eisen Ihnen aufgetragen hat?«
»Verstehe schon. Top secret. Keine Informationen dürfen nach außen dringen. Niemand darf die Strategie der Polizei kennen. Aber glauben Sie mir, ich bin verschwiegen, mir können Sie vertrauen. Die können mich foltern, Schlafentzug, Waterboarding, die ganze Guantanamo-Geschichte, das stecke ich weg. Aus mir bekommen die nichts heraus.«
»Wer sind denn ›die‹?«
»Na die, die immer dahinterstecken. Ein Geheimbund, korrupte Politiker, eine Verbrecherorganisation – Sie wissen schon.«
»Herr Mertens«, seufzte Marion, »bitte verschonen Sie mich
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