Fingermanns Rache
haben das Gebiet um das Kraftwerk weiträumig abgesperrt. Einige Schaulustige und Pressevertreter haben es trotzdem zum Gebäude geschafft. Denen ist ihre Sicherheit egal. Die Lage ist sehr schwer zu kontrollieren.«
»Du musst auf dich aufpassen, Kai«, warnte Marion. »Arndt hat jetzt wohl vollkommen den Verstand verloren. Ich traue ihm alles zu.«
»Keine Angst. Ich stehe nur in der zweiten Reihe. Die Kavallerie wird’s schon richten.«
*
Rick Hauser saß mit drei weiteren Präzisionsschützen im zweiten Wagen des SEK . Sturmhaube und Schutzweste trug er bereits, die Funkverbindung stand. Seine Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln, sie waren schweißnass. Nervosität kannte er eigentlich nicht, die Anzahl seiner Einsätze überstieg schon lange das übliche Maß. Doch diesmal war alles anders, diesmal sollte er einen Menschen ermorden.
Die finale Situation war Teil seines Berufs, darauf war er vorbereitet, dafür war er ausgebildet worden. Wenn er zum Einsatz kam, dann rettete er anderen Menschen das Leben, indem er die Zielperson unschädlich machte, gegebenenfalls tötete. Bisher war es nie zum Äußersten gekommen – Rick Hauser hatte noch nie jemanden erschossen. In seinem Kopfhörer knackte es, der Kommandoführer überprüfte abermals die Verbindung. Am Fenster flogen die Lichter des nächtlichen Berlin vorbei, Neugierige blieben stehen und sahen den Einsatzfahrzeugen nach. Wie würde das sein, wenn er abdrückte, wenn er aus Eigennutz das Leben eines anderen Menschen auslöschte? Würde ihn die Tat bis in den Schlaf verfolgen, würde er überhaupt wieder ruhig schlafen können?
Dass er es tun würde, daran bestand kein Zweifel. Er brauchte das Geld, seine Existenz stand auf dem Spiel. Die Kredite für das Haus mussten abbezahlt werden, alle Rücklagen waren der Bankenkrise zum Opfer gefallen. Hundertfünfzigtausend Euro hatte der Mann, der sich Robert nannte, geboten. Dreißigtausend Euro hatte Hauser schon erhalten. Woher wusste Robert von seinen Geldsorgen, woher kannte er seine Identität?
Die Kolonne bog in die Rummelsburger Landstraße ein, Streifenpolizisten winkten sie durch, Presseleute schossen Fotos. Das Kraftwerk kam in Sicht. Gleißende Scheinwerfer erhellten das Gebäude. Zwei Hubschrauber kreisten. Beamte in Uniform und Zivil hatten in einem zweiten Ring das Gelände umstellt. Nicht weit vom Haupteingang war die Einsatzleitung postiert. Man beriet sich. Die Wagen des Sonderkommandos stoppten zwischen Kessel-und Maschinenhaus. Alle stiegen aus und schauten die monumentale Fassade hoch.
»Sieht aus wie bei Leni Riefenstahl«, bemerkte einer.
»Was?«
»Vergiss es.«
Der Einsatzleiter, Hauptkommissar Peter Illsen, löste sich aus einer Menschentraube und kam auf sie zu. In der rechten Hand hielt er ein Megafon.
»Trotz mehrmaliger Aufforderung hat sich niemand gemeldet«, sagte er zum Kommandoführer. »Uns bleibt keine andere Wahl – Sie müssen reingehen.«
Ein kurzer Wink und die Heckklappen der Wagen wurden geöffnet, Helme und Gewehre verteilt. Rick Hauser zog den Riemen seines Helms fest und kontrollierte seine Waffe, das PSG 1 von Heckler & Koch. Zwanzig Schuss, effektive Reichweite sechshundert Meter, 8,1 Kilogramm schwer. Das vertraute Gewicht beruhigte Hauser, erinnerte ihn an seinen Plan. Schießen würde er nur, wenn die Zielperson einen Anlass dazu gab – eine unbedachte Bewegung, eine mögliche Gefährdung der Geisel, denn später musste er sein Handeln begründen, vor dem Chef, vor dem Psychologen und vor der Untersuchungskommission.
»Sammeln«, befahl der Kommandoführer. Die Männer stellten sich im Kreis auf. Martialische Gestalten, jeder ein Spezialist, jeder optimal vorbereitet.
»Wir gehen wie bereits besprochen vor. Vier Gruppen zu jeweils vier Mann. Gruppe eins und zwei Einstieg über die Seiteneingänge, Gruppe drei und vier durchs Haupttor. Ziel ist es, die Geisel zu lokalisieren und zu sichern. Wir kennen die Gegebenheiten durch die Gebäudepläne, was uns aber tatsächlich erwartet, ist ungewiss. Wir vermuten mindestens zwei Entführer. Sie sind äußerst gefährlich: Die Geisel wurde bereits verstümmelt. Die Absichten der Entführer sind nicht bekannt, aber ihr bisheriges Handeln lässt Schlimmes erahnen, vielleicht suchen sie den großen Abgang. Achtet auf verdächtige Kabel, auf alles, was den Anschein einer Sprengfalle erweckt. Und vergesst nicht: Bei allem, was geschieht, hat das Leben der Geisel oberste Priorität.« Der Kommandoführer
Weitere Kostenlose Bücher