Fingermanns Rache
Boden war mit Hindernissen bedeckt. Als die Ersten die Treppe erreichten, mussten sie eine vergitterte Tür aufbrechen. In diesem Moment erloschen die Scheinwerfer.
Rick Hauser hatte seinen Standort nicht verlassen.
»Verdammt«, fluchte er und tastete nach dem Nachtsichtgerät.
Fabian Flaig schrie, und in sein Schreien mischten sich die Töne eines Pianos. Erst leise, kaum wahrnehmbar, dann intensiver und von einer E-Gitarre begleitet. Hauser kannte die Melodie aus seiner Jugend, kurz verlor er die Übersicht. Intuitive Handlungen benötigten plötzlich viel Zeit. Als er endlich das Nachtsichtgerät angelegt hatte, wurde er von einem hellen Lichtstrahl geblendet, der sofort wieder ausging. Darauf folgten ein zweiter, ein dritter und immer weitere Lichtblitze. Ein Stroboskop erhellte die Halle periodisch, und Hauser konnte beobachten, wie seine Kameraden sich unter den stampfenden Rhythmen eines Rockklassikers wie in Zeitlupe die Stahltreppe hinaufkämpften. Das Podest war in dem Lichtgewitter kaum einzusehen.
Rick Hauser registrierte verwundert, dass seine Hände zitterten.
Nach schier endlosen Sekunden meldete sich endlich eine Stimme: »Geisel ist sicher und unverletzt. Die Zielperson ist tot.«
*
War es das Vibrieren oder war es der durchdringende Klingelton, der Marion geweckt hatte? Eine unnütze Frage, die sie auch sofort wieder vergaß, als sie das Display vor ihre halb geöffneten Augen hielt. Die Meldung: »Peter Illsen / 8.25 Uhr« drängte alles in den Hintergrund. Marion richtete sich kerzengerade im Bett auf. Noch immer trug sie ihre Kleider, die Sonne brannte durch das Dachfenster. Ein leichter Schwindel ließ sie die Augen schließen, zeitgleich drückte sie die Taste.
»Tesic.« Ihre Stimme klang belegt.
»Illsen, guten Morgen, Frau Tesic.«
»Morgen, Herr Illsen.« Marion bemühte sich, wach zu klingen.
»Sie haben es sicherlich schon aus den Nachrichten erfahren.«
Seine Feststellung setzte Marion unter Zugzwang. Wie konnte sie nur an einem so entscheidenden Tag total verschlafen?
»Nein, eigentlich nicht. Ich bin hier am Ende der Welt und habe Probleme mit dem Empfang«, versuchte sie sich herauszureden.
»Sie sind also gar nicht informiert?« Unglaube und ein gewisser Vorwurf schwangen in Illsens Stimme mit. »Wie dem auch sei. Ich habe nicht viel Zeit, Frau Tesic, deshalb komme ich gleich zur Sache. Fabian Flaig ist frei und unverletzt, Wilbur Arndt ist tot.«
Marion brauchte ein paar Sekunden, bis sie das gerade Gehörte verarbeitet hatte.
»Das kann nicht sein«, entfuhr es ihr. Dabei stellte sie überrascht fest, dass der Tod Arndts sie mehr berührte als der glückliche Ausgang der Entführung. Beflissen schob sie nach: »Dann hat der Junge es also Gott sei Dank überstanden.«
»Ja. Flaig geht es den Umständen entsprechend. Er steht unter Schock und wird von einem Psychologen betreut. Zu der Entführung und den Begleitumständen konnte er bisher keine Aussage machen. Vielleicht werden wir von ihm dazu auch nie etwas erfahren. Der Psychologe spricht von einer partiellen Amnesie.«
»Und was ist mit Arndt geschehen?«
»Er wurde von einem SEK -Mann, Rick Hauser, erschossen. Die Untersuchungen laufen. Ich habe den Vorgang mit einem Fernglas beobachtet. Sie können sich nicht vorstellen, was Arndt für eine Show abgezogen hat. Ein von Scheinwerfern angestrahltes Podest, seine Stimme durch Lautsprecher verstärkt, neben ihm die gefesselte Geisel. Das Ganze war wie ein Rockkonzert inszeniert.«
»Warum schoss dieser Hauser?«
»Arndt hat eine seltsame Ansprache gehalten. Dabei redete er sich in Rage und bedrohte die Geisel mehrmals mit einer Waffe. Flaigs Leben war definitiv gefährdet. Meiner Meinung nach hat Hauser richtig gehandelt. Wenn Sie sich das Video anschauen, kommen Sie sicher zur gleichen Ansicht.«
»Was für ein Video?«
»Ach, Entschuldigung, ich vergaß. Sie haben sich ja in einem Funkloch befunden, was jetzt offensichtlich nicht mehr der Fall ist.« Illsens Ironie war nicht zu überhören. »Da haben Sie richtig was verpasst. Diese Entführung wird als das Medienereignis des Jahres in die Geschichte eingehen. Arndt hat seinen Auftritt mit einer Webcam aufgezeichnet und die Welt in einer Videokonferenz live daran teilnehmen lassen. Sie können das Video auf Youtube anschauen. Kommentare finden Sie in allen erdenklichen Zeitungen und Internetforen. Alle, selbst die Chinesen, diskutieren über unseren Einsatz und darüber, wen Arndt öffentlich steinigen
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