Fingermanns Rache
sehen will. Er will das Geschehen unter Kontrolle haben.
Schlussfolgerung:
Rache an Wilbur Arndts vermeintlichen Peinigern könnte ein Motiv sein. Die Entführung dient wohl dazu, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Was bleibt, ist die abschließende Frage: Warum betreibt Arndt solch einen Aufwand, könnte er doch mit einfacheren Mitteln zum Erfolg kommen?
Inzwischen war die Flasche Wein beinahe leer. Er machte sie schläfrig. Mit dem letzten Glas in der Hand legte Marion sich aufs Bett und verfolgte die Regentropfen, die am Dachfenster entlangglitten. Ihre Gedanken waren bei Wilbur Arndt, als sie einschlief.
*
Der Tank stand mitten in der Halle. Ein riesiger Behälter aus Metall: zehn Meter lang, zehn Meter breit und drei Meter hoch. Wilbur zog sich aus und stieg die Leiter hinauf. Die Öffnung war schmal, gerade ausreichend für einen erwachsenen Menschen. Es gab ein dumpfes Geräusch, als er die Luke schloss. Vollkommene Dunkelheit hob alle Grenzen auf. Salzhaltiges Wasser, warm und dick wie Blut, umspülte seinen Körper. Wilbur stieß sich vom Rand ab und schwebte im Nichts.
Hier im Nichts hatte alles begonnen. Hier hatte er die Rahmenbedingungen gesetzt und die Figuren platziert. Und hier im Nichts würde alles enden. Der Ausgang war jedoch ungewiss, denn die Figuren hatten sich verselbstständigt.
Anfangs war alles nach Plan verlaufen, aber dann forderte die Spannung ihren Tribut: Die Geschichte folgte ihrer eigenen Logik – und warum? Diese Frage war leicht zu beantworten: Zu viel Freiheit bedeutet Kontrollverlust. Die Hinweise waren nicht präzise genug. Hätte Marion Tesic bei der ersten Vernehmung in Tromptow genauere Informationen erhalten, dann wäre sie nicht auf die echte Frau Eisen gestoßen. Die Konsequenzen aus dieser Begegnung waren unabsehbar. Auch die Hoffnung, dass Illsen Marion von Tromptow fernhielt, hatte sich zerschlagen – gerade dessen besonderes Verhältnis zu Frauen hatte ihn genötigt, sie dahin zu schicken, wo sie nicht sein sollte.
Überhaupt hatten wichtige Charaktere enttäuscht. Nein, enttäuscht war nicht das richtige Wort. Sie hatten vielmehr die vorgegebene Linie verlassen. Sie hatten ihren Spielraum in einer nicht vorhergesehenen Weise genutzt. So hatte sich zum Beispiel Fabian Flaig seinem Schicksal ergeben. Seine Inaktivität hatte Loki zum Äußersten getrieben und die Geschichte in eine andere, in eine gefährliche Bahn gelenkt. Was morgen geschehen würde, war nicht absehbar. Vor allen Dingen nicht, weil auch Hilde Rensch anders als erwartet agierte. Mit ihrer anfänglichen Zurückhaltung konnte nicht gerechnet werden, genauso wenig wie mit ihrem plötzlichen Aktionismus, der kaum beherrschbar war.
Der morgige Tag barg viele Unwägbarkeiten. Ein kleiner Fehler konnte alles zerstören, die Arbeit von Jahren in Frage stellen.
Glück und Leid
Tag zehn, Dienstag, der 22. April
Bis Marion ihr Handy gefunden hatte, verging eine geraume Zeit. Es war 3 Uhr 35. Sie hatte in ihren Kleidern geschlafen, ihr Kopf schmerzte.
Kai Mendel meldete sich. »Es geht los, Marion.«
»Was ist?« Marions Zunge klebte am Gaumen, nur mit Mühe brachte sie die Worte hervor.
»Einen Augenblick, bitte.« Kai sprach mit einer anderen Person. Was er sagte, war kaum zu verstehen. Ein Martinshorn und das Aufheulen eines Motors waren überlaut.
Marion rieb sich die Schläfen, Mendels Stimme kämpfte gegen den Lärm an.
»Jetzt bin ich wieder dran – ist gerade ziemlich hektisch. Mehrere Einheiten sind schon vor Ort, und das SEK ist unterwegs. Wir wissen jetzt, wo die Entführer sich aufhalten.«
»Lass es bitte nicht Tempelhof sein«, stammelte Marion.
»Was? Nein, es ist nicht Tempelhof. Es ist das stillgelegte Kraftwerk Rummelsburg. ›Müller‹ war der entscheidende Hinweis. Damit ist der verstorbene Architekt Hans Heinrich Müller gemeint. Er zeichnet für verschiedene Kraftwerke in Berlin verantwortlich. Wir haben sie alle überwachen lassen, und vor zwei Stunden wurde Wilbur Arndt beobachtet, wie er die Maschinenhalle des Kraftwerks Rummelsburg betreten hat.«
Nur langsam kam Marions Gedächtnis in Schwung. Kai sagte wieder etwas zu der anderen Person, das Martinshorn dröhnte.
»Und wieso rückt ihr mit Blaulicht an? Eine bessere Vorwarnung gibt es ja nicht.«
»Arndt hat sein Spiel auf die Spitze getrieben. Kurz nachdem wir ihn lokalisiert haben, hat er seinen Aufenthaltsort auf www.brings-zu-ende.de bekannt gegeben. Jetzt ist ganz Berlin auf den Beinen. Wir
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