Finish - Roman
aufglommen und das Theater in Licht tauchten, zog er ein Taschentuch aus der Jackentasche und schnäuzte sich. Er entschuldigte sich murmelnd bei Moriarty und Lord Grafton, die sich auf den Weg ins Foyer machten, und drängte sich durch die aus dem Theater strömenden Zuschauer zu einer Seitentür, die in das Künstlerzimmer hinter der Bühne führte. Gebückt trat Billy Joe durch die niedrige Tür, stieg die wackelige Holztreppe hinunter und ging einen dunklen, schmalen, mit gemalten Kulissen, Vorhängen und verstaubten Requisiten vollgestopften Korridor entlang. Der Gang roch nach Parfum, Talkum und Staub, eine seltsame Mischung, die so sehr zum Theater gehörte wie der Geruch von Pferdesalbe zur Umkleidekabine eines Stadions.
Vorsichtig klopfte er an die Tür der ersten Garderobe links. Es kam keine Antwort. Er öffnete die Tür. Dort stand der halbnackte, weißhäutige Henry Irving und musterte sich im Spiegel. Billy Joe war erstaunt, wie schmal Irving war, hatte er doch wenige Augenblicke zuvor die ganze Bühne gefüllt. Irving drehte sich um und erkannte den Besucher sofort. Lächelnd deutete er mit dem Daumen nach links.
»Nächste Tür. Viel Glück.«
Billy Joe nickte und zog die Tür zu. Sachte klopfte er an die nächste Tür.
»Herein!«, rief Mandy.
Schüchtern betrat er den Raum.
Das Zimmer war schwach beleuchtet, nur eine Gaslampe glimmte. Obwohl er Mandy in der Dunkelheit kaum sehenkonnte, nahm er wahr, dass sie nur halb bekleidet war und in Korsett und weißen Strumpfhosen vor ihm stand. Sie wirkte klein und zum ersten Mal zerbrechlich.
»Mandy«, sagte er verlegen und spürte, wie er rot wurde. »Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe. Niemals im Leben hätte ich geglaubt, dass du so gut bist.«
Ein breites Lächeln ließ ihre weißen Zähne aufschimmern. »Das ist teilweise dir zuzuschreiben, Billy Joe«, sagte sie. »In New York hast du wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen. Also hat Eleanor mir Mr. Irving als Lehrer besorgt. Es ist wie bei einem Sportler: Du hast recht, man muss den Moment beim Schopf packen.«
Er nickte. »Nichts in meinem Leben kommt auch nur annähernd an das heran, was du heute Abend geschafft hast«, sagte er und ging auf sie zu. Seine Augen hatten sich an das Licht gewöhnt, und er sah sie jetzt ganz deutlich.
»Vielleicht kriegst du eines Tages auch noch deine Chance«, sagte sie ganz ohne Bitterkeit. Er hatte sie noch nie so sanft reden hören.
»Meine Chance?«
Es folgte eine lange, fast greifbare Stille. Über ihnen waren das gedämpfte Murmeln und die Schritte der letzten Zuschauer zu hören, die das Foyer Richtung Haupthaus verließen.
Einen Moment lang schien es, als sei die Zeit stehengeblieben und als knisterte die Luft zwischen ihnen. Billy Joe spürte, wie leidenschaftlich sie für ihn empfand. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, wo er sich lassen sollte – und machte genau in dem Moment einen Schritt vorwärts, in dem auch Mandy auf ihn zutrat, so dass sie sich in der Mitte des Zimmers trafen. Sie wichen einander nicht aus. Mit hängenden Armen standen sie da, unfähig, die Initiative zu ergreifen.
Dann spürte Billy Joe, wie Mandys Hand sich warm und zart auf seinen Arm legte. Seine rechte Hand fuhr sacht ihren Arm hinauf zur Schulter, dann zu ihrer Ohrmuschelund schließlich in ihren Nacken. Seine linke Hand nahm den direkteren Weg, und einen Moment lang sah Billy Joe auf Mandy hinab, ihr Kopf in seinen Händen.
»Es tut mir leid, dass ich nicht der war, den du wolltest«, sagte er.
»Du bist es jetzt«, sagte sie, zog ihn zu sich herab und küsste ihn.
Victoria-Stadion, Barnsley, 1. September 1877
Um zwölf Uhr mittags, zwei Stunden vor Beginn des Zweikampfes, war die Sportanlage bereits voller Menschen. 51 296 Menschen hatten entweder einen Sixpence für einen engen Stehplatz auf den Rängen oder einen Shilling für einen relativ komfortablen Sitzplatz auf der Haupttribüne gezahlt. Mehr als 5000 hatten nichts gezahlt und sich an den Wachleuten vorbei durch die Absperrgitter gequetscht oder waren ungeachtet der Verletzungsgefahr über die mit Glassplittern gespickten Mauern geklettert. Außerhalb des Stadions drängten sich weitere 10 000 Neugierige und wetteten wild bei Buchmachern, die in der Menge standen.
Die Polizei von Barnsley hatte den beiden Kutschen der Läufer eine Eskorte zur Seite gestellt, und nachdem sie über die vor Menschen wimmelnden Kopfsteinpflasterstraßen der Stadt gerumpelt waren, trafen
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