Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
gedrückt bekam. Jedes Mal, wenn es sein Brotstückchen gegessen hatte, stieß es einen quäkenden Schrei aus, und Annie sorgte für Nachschub. Lucys Vater war nicht da; ihre Mutter aber stand am Herd und rührte in einem großen Topf. Die Küche wurde beleuchtet von einer Gaslampe über dem Küchentisch, die ein schwaches, warmes Licht verbreitete.
Wie eigenartig, dachte sich Finn, dass diese Szene in der Küche so heimelig wirkte. Schließlich wusste Finn doch, dass Lucys Mutter gar keine nette Frau war. Sogar sein Bruder und schließlich auch ihre eigene Tochter waren von ihr fortgelaufen. Trotzdem stellte er sich einen Moment lang vor, er säße mit den Kindern an dem alten Küchentisch und äße ein Stück Brot. Sein Magen knurrte so laut, dass er einen Moment lang befürchtete, Lucys Mutter könnte ihn hören, aber die rührte weiter in ihrem Topf. Auch die Kinder waren so in ihr Essen vertieft, dass es keinem einfiel, aus dem Fenster zu sehen.
Sorgfältig suchte Finn im schwachen Schein der Lampe die Küche ab, aber nirgendwo sah er das zusammengeknüllte Papier, welches vermutlich Toms Stein enthielt.
Gerade wollte er sich vorsichtig wieder zurückziehen, als er von der Straße her Geräusche hörte. Lucys Mutter schien auch etwas gehört zu haben. Sie legte den Kochlöffel auf den Rand des Topfes, wischte ihre Hände sorgfältig an der dreckigen Schürze ab und verließ die Küche. Die Kinder blickten ihr erstaunt nach.
Noch bevor Finn entscheiden konnte, ob er bleiben sollte oder lieber doch gehen, kam sie schon zurück, mit einem Mann im Schlepptau, den Finn nicht erkannte. Lucys Vater war es jedenfalls nicht, dazu war er zu klein, aber leider war das Licht aus der Gaslampe nicht hell genug, als dass Finn die Gesichtszüge hätte erkennen können.
Die Erwachsenen schienen über etwas zu diskutieren, während Lucys kleine Geschwister beiden mit großen Augen zusahen. Offenbar war fremder Besuch in ihrer Küche sehr ungewöhnlich. Sogar das Kleinste vergaß, nach einem neuen Stück Brot zu quäken und starrte den Besucher an, wobei ein Spuckefaden über sein Kinn lief.
Finn hätte zu gerne gehört, worüber die Erwachsenen sprachen, aber durch die Scheibe drang nur unverständliches Gemurmel zu ihm hinaus.
Plötzlich streckte sich Lucys Mutter und zog aus einem Regal einen Steinguttopf. Sie öffnete ihn, fuhr mit der Hand hinein und wühlte ein wenig darin herum, dann holte sie etwas heraus, das Finn nur zu gut erkannte. Nur mit Mühe konnte er einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken. Es war der zusammengeknüllte Zettel mit dem Stein drin! Wenn Lucys Mutter diesem Mann den Stein gab, dann war alles aus. Wie sollten sie es schaffen, den Stein von einem wildfremden Mann zurück zu bekommen? Finns Gedanken überschlugen sich. Er musste versuchen, den Mann zu verfolgen, er musste…
„Na, siehst du alles gut?“, sagte eine leise Stimme dicht neben ihm und hätte ihn beinahe dazu gebracht, vom Eimer zu fallen.
„Tom! Und Lucy auch! Was macht ihr denn hier?“
Bevor die beiden antworten konnten, richtete er seinen Blick wieder in die Küche. „Ist auch nicht so wichtig“, flüsterte er. „Da drinnen ist ein fremder Mann, und Lucys Mutter zeigt ihm gerade den Stein. Er packt ihn aus und guckt ihn sich an. Und jetzt – jetzt packt er ihn wieder zurück und gibt ihn ihr. Was soll das denn? Und…“
„Nun beruhige dich doch mal. Der Mann ist unser Freund. Erkennst du ihn nicht?“
„Nein“
Angestrengt spähte Finn weiter in die Küche. „Wer soll das sein?“
„Es ist der Milchmann, den wir neulich getroffen haben. Wir sahen ihn eben auf der Straße, und haben ihn gefragt, ob er uns helfen könne. Er will herausfinden, ob der Stein noch da ist, und vor allem, wo er versteckt ist. Wir werden nicht genug Geld haben, um ihr den Stein abzukaufen, aber vielleicht können wir ihn heimlich stehlen, wenn sie es nicht bemerkt.“
„Jetzt geht er wieder“, murmelte Finn und stieg langsam von seinem Eimer. „Ich weiß, wo der Stein versteckt ist. Er ist in einem Topf auf dem Küchenregal. Aber uns da hinein zu schleichen…“
Er schauderte. Es erschien ihm weniger gefährlich, sich mit einem Wolf anzulegen als mit Lucys Mutter.
„Das schaffe ich schon“, sagte Lucy zuversichtlich. „Sag mir nur, welcher Topf es genau ist, damit ich keine Zeit mit Suchen verschwende.“
Die Kinder schlichen leise in Richtung der Straße und warteten, bis sie das Klappen der Haustür hörten. Dann
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