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Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)

Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)

Titel: Finn und der Kristall der Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Konrad
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enttäuscht. Die Dame riss den Kopf hoch und starrte Jacob ungläubig an.
    „Du kannst das lesen?“, rief sie. „Aber diese Schrift zu lesen fällt ja selbst mir schwer!“
    „Unsere Großeltern haben uns das beigebracht“, warf Finn schnell ein.
    „Eure Großeltern? Aber wie alt sind denn die?“, wollte die Dame wissen. „Soweit ich weiß bringt man Schulkindern doch schon seit dem zweiten Weltkrieg kein Sütterlin mehr bei!“
    Ein Weltkrieg? Es hatte zwischen ihrer eigenen Zeit und heute einen Weltkrieg gegeben? Und wann mochte der gewesen sein? Die Jungen sahen sich entsetzt und sprachlos an.
    „Oma und Opa haben das noch von ihren Eltern gelernt“, behauptete Tom schnell. „Sie fanden, es sei wichtig, dass diese Schrift nicht in Vergessenheit gerät!“
    „Ja, und sie üben das immer mit uns“, ergänzte Finn. „Immer wenn wir sie besuchen!“
    Die Dame schüttelte den Kopf und schlug eine Seite um. „Na dann guckt mal, ob ihr hier etwas entziffern könnt. Mir fällt das sehr schwer. Für mich sehen die Buchstaben alle ziemlich gleich aus.“
    Finn und Jacob überflogen die Einträge. Tatsächlich gab es da zum allergrößten Teil Informationen über Eheschließungen, Taufen und Beerdigungen. Vorsichtig blätterte Finn eine Seite weiter. Ein kleiner Zettel, der zwischen den Seiten gesteckt hatte, fiel auf den Boden. Finn wollte sich schon bücken, um ihn aufzuheben, als er den Eintrag sah:
    22. November 1915 , stand da in der sauberen Schrift eines längst verstorbenen Pfarrers, und dann: Wenige Minuten nach Mitternacht wurde auf den Stufen von St. Pankraz ein kleiner Junge gefunden, gewickelt in eine warme Decke. Der gerade vom Theater wieder kehrende und an der Kirche vorbeifahrende Dr. von Anbach nebst Gattin nahm sich des Knaben an und versprach, ihn mit seinem Automobil bei der Polizei abzuliefern. Da die bittere Kälte keinen längeren ungeschützten Aufenthalt im Freien erlaubte, wurde das Angebot dankend angenommen.
    „Wir haben es gefunden!“, sagte Finn leise, und dann lauter: „Warten Sie, ich lese es ihnen vor!“
    Er gab sich Mühe, ein wenig stockend zu lesen, so, als sei diese Schrift nicht diejenige, mit der er aufgewachsen war und die er in der Schule gelernt hatte.
    „Da haben eure Großeltern ja tatsächlich Recht gehabt!“, sagte die nette Dame zufrieden. „Kann ich euch noch weiter helfen?“
    „Dürfte ich vielleicht noch einmal in dem Buch blättern?“, fragte Jacob leise. „Es ist so spannend, diese alten Einträge zu sehen. Fast wie eine Geschichte.“
    Die Dame lächelte. „Mach ruhig“, sagte sie freundlich. „Du gehst ja vorsichtig damit um.“
    Jacob blätterte eine ganze Menge Seiten um, bis er schließlich beim 21. Mai 1903 stehen blieb. Gemeinsam mit Finn las er leise den Eintrag.
    Brautleute:
1. Johannes von Anbach, von Beruf Arzt, 27 Jahre
Eltern: Martin (von Beruf Arzt) und Julianne, geborene von Dobbenthien
2. Wilhelmine Winter, geborene Preiss, 23 Jahre alt, Eltern der Braut:
Gottlieb Winter, Beamter von Beruf, und Maria, geborene Klose
    Zeugen: Georg Weinscheid, 29 Jahre alt und August Becker, 27 Jahre alt
    Finn sah, wie Jacob sich schnell eine Träne aus dem Auge wischte. Hundertundzwei Jahre war es her, dass seine Eltern geheiratet hatten. Und nun stand ihr eigener Sohn hier und las diesen uralten Eintrag, wohl wissend, dass sich außer ihm niemand mehr an sie erinnern würde.
    „Komm“, sagte Finn sanft. „Lass uns gehen.“ Vorsichtig schlug er das große Buch zu.
    „Sie haben uns sehr geholfen“, sagte er freundlich zu der Dame. „Jetzt wissen wir doch zumindest, dass auf den Stufen von St. Pankraz wirklich mal ein Kind ausgesetzt worden ist. Die Geschichte, die uns unsere Großeltern erzählt hat, ist also wahr.“
    „Ach, gerne geschehen, Kinder“, sagte die Dame und lächelte. „Und viel Erfolg bei eurer Schularbeit!“ Finn sah sie einen Moment verdutzt an, bis er sich wieder erinnerte, was Jacob ihr am Anfang erzählt hatte. Er lächelte zurück.
    „Einen schönen Tag auch noch!“, sagte er und verbeugte sich leicht in ihre Richtung, bevor er mit seinen Brüdern die Treppe hinauf lief. Ihren erstaunten Blick über diese altmodische Art des Abschieds nahm er nicht mehr wahr.
     
    „Und was hat uns das jetzt gebracht?“, fragte er seine Brüder, als sie wieder vor der Kirche standen. „Eigentlich haben wir doch nur erfahren, was wir ohnehin schon wussten.“
    „Ich bin trotzdem froh, dass wir das Kirchenbuch ansehen

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