Finne dich selbst!
Eine Bilddokumentation des legendären Festivals in Turku, das seit den Siebzigern jährlich stattfindet. Viivi und Axel hatten ihnen das Buch zu Weihnachten geschenkt. Ein echtes Fundstück. Sie hatten das Buch im Laden entdeckt und darin geblättert. Dann hatte Viivi auf einem der Bilder ihren Vater erkannt. Matti mit wallender Hippiemähne.
Matti und Kati eröffneten damals ein Geschäft und verkauften Mode, die auch ihnen gefiel, junge Mode. Nur bei ihnen gab es Blue Jeans, die legendäre Levis 501 . Und sie verkauften eine zweite Legende. Die Chuck Taylor All Stars, von ihren Trägern nur kurz und cool Chucks genannt. Auf Deutsch sehr unspektakulär »Leinenschuhe«, auf Englisch sofort ein Kultbegriff. Sie waren Anfang des vorigen Jahrhunderts als reine Basketballschuhe entwickelt worden. Ab den Fünfzigern traten sie einen Siegeszug auch im Alltag an, und alle Jugendlichen, ganz gleich aus welchen Kulturen, hatten sie an den Füßen, frühe Rocker und spätere Punks ebenso wie heutige Hip-Hopper. Und ganz Lahti war scharf auf diese Schuhe und die Jeans. Außerdem führten sie im Laden Cowboy Boots von Tony Mora.
Matti und Kati hatten die richtige Idee zur richtigen Zeit. Im Grunde genommen lag der Erfolg ihres »Store« einfach in der Tatsache, dass sie selber Teil der Jugendkultur waren, dass sie selber das trugen, was ihre Kunden suchten. Der Shop, 1975 eröffnet, war klein und eng, aber erfolgreich. Schon 1977 vergrößerten sie sich. Lahti ist eine kleine Stadt, trotzdem waren die begehrten Chucks immer wieder ausverkauft. Wenn die neue Converse-Verschiffung in Lahti zum Zoll kam, wenn Matti mit dem weißen Van losfuhr, um die Ware dort abzuholen und auszulösen, lag die Jugend Lahtis bereits auf der Lauer. »Matti hat neue Chucks!« Zeitweise bildeten sich Schlangen vor dem Laden. »Kaufen, bevor es wieder ausverkauft ist!«, war die Devise. Heute führt Viivis Bruder Toni den Laden weiter, zusammen mit seiner Frau Heidi.
Es sind anregende Gespräche. Sie dauern lange, nicht zuletzt durch die Übersetzungen. Die Entdeckung der Langsamkeit. Ein Leben in Entschleunigung. Die Neugierde auf den nächsten Satz, das Ringen um den nächsten Gedanken. Diese Unterhaltungen sind herzlich. Oft wird durch die Übersetzungen versetzt noch mal über den gleichen Witz gelacht.
Wir Ostwestfalen sind aufrichtig aufgenommen. Ich habe das Gefühl, als ginge Ilse irgendwie erleichtert ins Bett. Das also sind Axels Schwiegereltern. Hier lebt er, im Land der Bäume und Seen, und fühlt sich wohl inmitten der Natur, mit Viivi, im Kreis ihrer Familie, mit Freunden in Lahti und Helsinki. Auch Hermann atmet innerlich spürbar auf. Kann es sein, dass er etwas gerader geht?
Seine Verwandlung am nächsten Morgen ist immens. Aufrecht und strahlend kommt er zum Frühstück. Der Mann ist fröhlich. Gelöst.
»Was ist denn los, Hermann?«, frage ich ihn.
»Hier kann man es aushalten.«
»Ach, auf einmal ist es schön hier?«
»Konnte ja vorher keiner wissen«, grinst er.
Axel hat sich zu uns gesellt. Ich nicke zu ihm rüber: »Hatte Axel doch gesagt.«
»Der ist ja noch jung, der Axel. Der hat ja noch keine Ahnung vom Leben.«
Das Frühstück birgt dann ein kleines Hindernis für sture Ostwestfalen: die Butter. In Finnland ist es üblich, dass ein Buttermesser für alle in der Butter steckt. Man bedient sich, schmiert, steckt das Messer zurück und belegt dann das wunderbare dunkle finnische Brot. Axel hatte Hermanns »Watt? Nä. Datt wür nix for mi!« vorausgesehen und dafür gesorgt, dass jeder ein eigenes Messer bekommt. Trotz eigener Klinge entfährt ihm wieder ein typisch sturer Kommentar.
»Kerl, ett gaht nur um de Bottern!«, donnert Ilse halblaut. Es geht doch nur um die Butter.
»Trotzdem!«
»Bitte, nicht am Tisch streiten«, greift Axel sofort ein.
»Wieso?«, sagt Ilse, »das ist doch kein Streit.«
»Nee, wirklich nicht«, pflichtet ihr Hermann bei.
Und das ist tatsächlich ein großer Unterschied. Der Finne streitet nicht. Toleranz wird großgeschrieben, egal ob gegenüber den Kindern, den Freunden oder sonst wem. Disput oder heftige Diskussion ist unüblich. Der Finne ist höflich bis zur Selbstaufgabe. Allerdings gibt es für diese Höflichkeit auch einen geradezu mystisch-mythischen Grund, wie ich von Viivi erfahre: die Tonttus!
Tonttus, Trolle, Mumins
Der Finne streitet nicht. Vor allem darf man nicht in der Sauna streiten, sonst verärgert man den dort lebenden Sauna-
tonttu
, den Sauna-Troll.
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