Finne dich selbst!
und gehen die Wege am See oder am Fluss ab. Inzwischen, erzählen die beiden Frauen, gibt es für diese Arbeit thailändische Erntehelfer, die jährlich für die Erntesaison eingeflogen werden.
»Ähnlich wie Polen nach Deutschland zur Spargelernte kommen?«
Marja nickt. »Sie arbeiten unter harten Bedingungen. Im Moor gibt es Myriaden von Mücken.«
»Die Mücken haben sich in Finnland gehalten«, sagt Telle ironisch, »egal wie sich Politik, Gesellschaft oder Technologie entwickelt haben.«
»Und wie war das damals mit der Ernte?«
»Eigentlich nicht anders als heute. Manchmal läufst du von einer Moltebeere zur anderen, 500 Meter entfernt, und du findest keine einzige dazwischen. Manchmal findest du ein Mooskissen, das mit vielen bewachsen ist. Es ist letztlich eine Sache der Erfahrung. Wenn man unterwegs ist, wird nicht viel gesprochen. Man trinkt mal einen Schluck Wasser und geht weiter. Manchmal findet man eine Fläche von vielleicht fünf mal zehn Metern, die dann wie eine Wiese mit Moltebeeren bestanden ist.«
Die Sammler sind mit Eimern unterwegs. Und die Eimer werden richtig schwer. Wenn die Beeren reif sind, sind sie sehr, sehr saftig. Sie müssen schnell verarbeitet oder eingefroren werden.
Wo sie überhaupt wachsen, frage ich.
»Auf den offenen Mooren werden die Beeren nie ganz groß. Die besten Orte sind die Regionen zwischen Moor und Wald. Aber sie sind schwer zu finden. Und Moltebeerenpflücker verraten ihre Stellen nicht. Und niemand pflückte wie mein Vater. Was mein Vater mitbrachte, war immer von vornherein so sauber, man musste praktisch nichts nacharbeiten.«
»Wie? Sauber?«
»Frei von Blättern, Zweigen, Moos. Wenn wir Preiselbeeren pflückten, habe ich immer viel Laub dazwischen gehabt. Dann haben wir die, bevor wir sie weiterverarbeiteten, auf ein Backblech gelegt und die Beeren mit einer Auerhahn-Feder heraussortiert.«
»Mit einer Vogelfeder?«
»Wie könnte es einfacher gehen?«
Wir Ostwestfalen fühlen uns wie in einer finnischen Märchenstube. Telle erzählt Geschichte auf Geschichte: »Unsere Uroma kommt aus Karelien. Sie ist in einem Dorf namens Kalevala geboren. Und sie konnte Zither spielen. Wir weinen viel und wir lachen viel. Aber vor allem sind wir weise und kluge und schöne Frauen in unserer Familie.«
Sie blitzt mich mit lachenden Augen an. »Kennt ihr Tapio?«
»Nie gehört, Telle.«
»Tapio ist ein alter finnischer Waldgott. Oder Waldgeist. Eigentlich der König des Waldes, auch über ihn wird in den Büchern geschrieben. Und Tellervo, das ist mein eigentlicher Name, alle nennen mich aber immer nur Telle, Tellervo ist die entzückende Tochter des Waldgottes Tapio.« Wir applaudieren begeistert. Vor uns sitzt eine Vortragskünstlerin, die Seela Sella in nichts nachsteht.
Telle erzählt von Kanteletar, dem großen Volksdichtungsepos, Liedern, Gedichten und Balladen, gesammelt von Elias Lönnrot. Das Kanteletar wird als Schwesterepos zur Kalevala betrachtet, der großen Sammlung von Heldensagen und Mythen. »Sie hat den gleichen Namen wie Omas kleines Dorf.«
Telle erinnert sich: »Wenn Vater erzählte, war das toll und wunderbar. Und er konnte mit seinen Händen Schattenbilder an der Wand machen, die seine Geschichten untermalten. Bäume, Blumen, Tiere, das alles wirkte absolut lebendig. Und dann erzählte er uns unglaubliche Dinge. ›Stell dir vor, Telle, was heute passiert ist! Ich habe den ganzen Kofferraum voll mit Wild, aber ich habe keinen einzigen Schuss abgegeben. Ich ging durch den Wald, und da lief ein Auerhahn an mir vorbei, und er lief genau vor einen Baum. Und fiel um. Da packte ich ihn und hatte meine erste Beute. Dann habe ich Pause gemacht. Ich habe auf einem Baumstumpf gesessen und gegessen. Plötzlich läuft ein Hase an mir vorbei. Sehr schnell. Aber ich habe mich noch schneller auf ihn draufgesetzt. Das war schon meine zweite Beute. Und als ich dann auch noch ein Birkhuhn hatte, bin ich nach Hause gekommen!‹ Solche Geschichten erzählte mein Vater.«
»Bei uns in Deutschland nennt man das Jägerlatein.«
Wir drei Ostwestfalen staunen und sind zutiefst berührt von dieser Offenheit, von der Gastfreundschaft der beiden Frauen. Wir räumen gemeinsam den Tisch ab und trinken noch einen Kaffee. Wir naschen von den Erdbeeren.
»Kennt ihr M. A. Numminen?«, fragt Telle.
»Ja, der macht doch alles Mögliche. Singt sehr witzige Lieder.«
»Genau. Bücher schreibt er auch. Er hat Filme gemacht und für Kinder gearbeitet.«
»Ich habe
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