Finnischer Tango - Roman
wurde, nach der Waffe zu greifen und zuzuschlagen, und der Ausstoß von Hormonen, die sich im Körper ausbreiteten, hatte Energie für den Angriff aktiviert. Der Mensch war ein Tier.
Adil stand auf, als er in einem Winkel des Raumes ein Rascheln hörte. Er holte aus der Kochnische ein Stück Emmentaler Käse und schlich in die Ecke. Jetzt waren es schon drei Ratten, die Fütterung hatte Erfolg.
»Die Männer Arbamows sitzen in der Maschine nach Finnland, die in Kürze landen wird. Vier Männer und eine Frau.« Zana gab die Neuigkeiten weiter, die er gerade am Telefon erfahren hatte.
Adil betrachtete seinen großgewachsenen Helfer mit dem fleckigen Gesicht abschätzend: Zana wirkte jetzt ernster alsje zuvor während der Operation. Er glaubte nicht, dass Zana im Kampf zurückweichen würde, seinen Mut hatte er als Peschmerga-Kämpfer oft bewiesen. Deswegen hatte er Zana auch ausgewählt. Aber laut Darwin konnte auch schon das bloße ängstliche Auf-der-Hut-Sein anderen Artgenossen eine mögliche Gefahr verraten. War Zana zu einer schauspielerischen Leistung fähig? Es bereitete ihm auch Sorgen, dass Zanas nächste Aufgabe diplomatisches Geschick verlangte.
»Gehen wir den Plan noch einmal durch«, schlug Adil vor. »Wenn Saari in Petersburg alles so getan hat wie vorgesehen, dann kommen Arbamows Männer …«
»Haben wir denn nicht alles schon abgesprochen?« Zana unterbrach Adil das erste Mal seit langer Zeit.
»Da ist deine letzte Aufgabe und absolut die wichtigste. Davon hängt alles ab: Ob wir das Geld bekommen, ob es uns gelingt, Arbamow und Umar zu entlarven …« Adil schluckte seinen Zorn mitten im Satz hinunter, obwohl er Zana gern zurechtgewiesen hätte. Doch er wollte den Mann nicht verärgern, von dem der Erfolg der nächsten Etappe des Planes abhing. Vielleicht sollte er von anderen Menschen nicht das Gleiche wie von sich selbst verlangen – Vollkommenheit. Die Genialität war biologisch gesehen eine seltene und extreme Mutation der Gattung Mensch, die man nicht erlernen oder sich aneignen konnte, man mußte als Genie geboren werden. Genau wie bei Zwergen oder siamesischen Zwillingen, dachte Adil.
»Es ist am besten, wenn du gehst, falls du meine Männer wieder nicht sehen willst. Man wird mich gleich abholen.« Zana hörte sich versöhnlich an. »Meine Helfer würden es natürlich sehr schätzen, wenn sie dir wenigstens einmal begegnen dürften.«
»Ich mache das nicht wegen der Ehre und des Ruhmes. Es ist für alle Seiten besser, dass möglichst wenige meineRolle kennen«, erwiderte Adil, und am allerbesten ist es, wenn sie niemand kennt, fügte er für sich hinzu.
Die an die Wand gemalten Zellen und die Fotos von Camp Bucca hatten Adil in Unruhe versetzt, vielleicht würde ein Spaziergang im Frost ihn beruhigen. Er zog sich seinen Kaschmirmantel an, verabschiedete sich von Zana und trat hinaus.
Eine Weile genoss er es, wie der Schnee knirschte, das war allerdings so ziemlich die einzige angenehme Sache in Finnland. Dann wanderten seine Gedanken zu Umar, der ihm vor einigen Stunden den Befehl erteilt hatte, Turan Zana mitsamt seinen Helfern umzubringen. Es lief also alles wie vorgesehen. Der Fanatismus hinderte Umar daran, zu erkennen, was tatsächlich im Gange war, dachte Adil. Genau wie es Jung-Stilling in seiner Autobiographie kristallklar formuliert hatte: »Der Fanatiker ergibt sich blind dem göttlichen Willen, der in ihm spricht, und hält sich für ein von diesem Willen auserwähltes Instrument, das berechtigt ist, über andere Menschen zu herrschen.«
Auf dem Weg in Richtung Herttoniemi ging Adil an einer Schule vorbei, hörte ein Geschrei und sah, wie zwei breitschultrige Jungen einen Mitschüler, dessen Haut etwas dunkler war als die der anderen, in einen Schneehaufen stießen.
Konsequent gedacht, hätte er der Verrückte sein müssen und nicht Umar, überlegte Adil. Psychosen, Grenzzustände und Neurosen waren bei Menschen mit besonderer Begabung deutlich häufiger anzutreffen als bei normalen Menschen. Er spulte aus seinem Gedächtnis die Namen klinisch geisteskranker Genies herunter: Rousseau, Nietzsche, Newton, Maupassant, Dostojewski, Strindberg, van Gogh, Schumann … Er war gezwungen, den Gedankenstrom zu unterbrechen und lächelte, weil ihm etwas einfiel: Die meisten genialen Menschen waren auf irgendeine WeiseVerrückte, aber die meisten Verrückten waren nicht auf irgendeine Weise genial. Darin bestand der Unterschied zwischen ihm und Umar.
Der Streusand auf dem Weg
Weitere Kostenlose Bücher