Finnischer Tango - Roman
durch und hatte Wahnvorstellungen, genau wie damals beim Entzug.
Im Hausflur schlug ihr Herz schneller, obwohl Ratamo vor ihr die Treppe hinaufging. Mechanisch registrierte sie, dass im Briefschlitz des Rentners, der unter ihnen wohnte, immer noch der Umschlag steckte. Irgendjemand mußte da etwas unternehmen, womöglich war der Mann in seiner Wohnung gestorben, vielleicht hatte er keine Angehörigen oder Freunde …
»Gibst du mir den Schlüssel, dann schaue ich kurz hinein«, sagte Ratamo.
Eeva reichte ihm das Schlüsselbund und stand wie erstarrt vor ihrer Tür, als Ratamo in der Wohnung verschwand. Ihr Puls hämmerte in den Schläfen. Vergeblich sagte sie sich immer wieder, dass die Polizisten die Wohnung vor kurzem untersucht hatten und der Türke nicht so dumm wäre, an den Ort des Mordes zurückzukehren. Doch die Angst hörte nicht auf den Verstand. Das Bild der Gestalt, die an den Ketten hing, schoss ihr durch den Kopf. Dann sah sie Ratamo, der ihr zulächelte, und die Anspannung löste sich.
»Alles in Ordnung. Du kannst mich anrufen, wenn irgendetwas passiert, und kommt nicht auch Mikko gleich nach Hause?«
Eeva umarmte Ratamo. »Ich stehe tausendfach in deiner Schuld, du hast mir einen großen Gefallen getan. Morgen reden wir weiter«, sagte sie.
Die Tür fiel ins Schloss, Eeva sagte Kirsi, sie solle ihren Mantel an den Haken hängen, und betrat vorsichtig das Wohnzimmer. Es war nicht die geringste Spur vom Besuchdes Türken zu erkennen. Die Wohnung sah genauso aus wie am Morgen, als alles noch gut war. Oder zumindest besser als jetzt. Die Ketten waren verschwunden, ebenso wie die unter Kirilow ausgebreitete Plane. Hatte sie sich das alles nur eingebildet: den Türken, Kirilow, die Botschaft, die man ihr übertragen hatte? Dann bemerkte sie, dass es nach Chemikalien roch. Was hatten die Polizisten hier nur gemacht?
Eeva ließ sich in den Sessel fallen. Am liebsten würde sie sich jetzt beruhigen, entspannen und über alles nachdenken, was an dem Tag geschehen war, aber das durfte sie nicht, jetzt noch nicht. Nachdem sie einige Minuten lang ins Leere gestarrt und so Kräfte gesammelt hatte, wärmte sie die Reste der vorgestern gekauften Regenbogenforelle auf, fragte Kirsi dabei dies und das und versuchte, sich ganz ruhig zu verhalten. Ihr knurrte der Magen.
»Was ist dir heute eigentlich passiert?«, erkundigte sich Kirsi, als beide schließlich am Tisch saßen und sie versuchte, eine Erbse mit der Gabel aufzuspießen.
Eeva überlegte einen Augenblick, was sie antworten sollte. »Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest, das sind Angelegenheiten von Erwachsenen.«
»Du musst doch nicht etwa wieder in dieses Krankenhaus?«
»Nein, mein Schatz, ganz bestimmt nicht. An so etwas brauchst du nicht einmal zu denken«, versprach Eeva und schaute ihre Tochter so überzeugend wie möglich an, obwohl sie selbst Angst hatte.
Als sich Kirsi in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, öffnete sie den Kühlschrank. Eeva plagte sich eine Weile mit dem Korkenzieher ab, bis der kühle Weißwein endlich in ihr Glas gluckerte. Sie suchte im Gewürzregal ihre Tabletten mit den Spurenelementen, steckte ein paar davon in den Mund und schlurfte ins Wohnzimmer.
Als sie von der Universität nach Hause gekommen war, hätte sie eigentlich schon erwartet, daheim einen geruhsamen Samstagnachmittag zu verbringen, dachte Eeva, als sie den Wein kostete. Aber die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen, sie war nicht imstande, das absurde Schauspiel, dessen Zeuge sie gewesen war, und die quälenden Stunden bei der Polizei zu verdrängen. Es erschien unbegreiflich, dass ihr so etwas passiert war. Eeva streckte sich auf dem Sofa aus und legte die Beine auf die Lehne.
Der Wein entspannte die Muskeln schon nach wenigen Minuten, und sie konnte klarer denken, bis schließlich nur eine bohrende Frage übrigblieb: Warum hatte der Türke gerade sie als Überbringerin seiner Nachricht ausgewählt?
Eeva trank das Glas aus und ging sofort zum Kühlschrank, um es wieder zu füllen. Der Wein sorgte tatsächlich für Erleichterung, obwohl der Alkohol im Vergleich zu Speed, das wie ein Schmiedehammer zuschlug, nur wie ein Gummihämmerchen wirkte. Warum war ihr Leben so geworden, warum war nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten alles schiefgelaufen? Während des Studiums am MIT war es ihr vergönnt gewesen, für einige Zeit ganz oben, an der Spitze, zu stehen, dank ihres Gedächtnisses hatte sie sogar unter den talentiertesten
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