Finnisches Blut
schaute Liisa schelmisch an. »Hast du das Geld mit?« Er wollte Liisa wieder loswerden, bevor sie allzu schwierige Fragen stellte.
»Ja, ja. Aber so dick habe ich es auch nicht, daß ich mit Hundertern um mich werfen kann. Du mußt es spätestens am Montag zurückzahlen«, sagte Liisa, obwohl sie nicht daran zweifelte, daß sie das gepumpte Geld von Ratamo zurückbekäme. Sie gab ihm die Scheine und Mannerahos Schlüssel.
»Na klar. Habe ich schon mal mein Wort gebrochen?«
»So war das ja nicht gemeint. Du, ich muß jetzt wieder zurück. Ruf mich irgendwann an«, erwiderte Liisa. Sie versuchte immer, Ratamo an sich zu binden, wenn sich dazu eine Möglichkeit ergab.
»Aber wir könnten doch noch ein paar Bierchen trinken und Händchen halten«, witzelte Ratamo.
»Hör mal, das ist ein Arbeitstag. Wenn du das mal am Wochenende sagen würdest«, entgegnete Liisa und meinte es ernst.
Einen Augenblick lang fürchtete Ratamo schon, daß Liisa tatsächlich mit in die Kneipe kommen würde.
»Wir sehen uns ja dann spätestens am Montag«, sagte er schnell, obwohl er überzeugt war, daß er am Montag nicht an |141| seinem Arbeitsplatz erscheinen würde. Er bekam sofort Gewissensbisse. Liisa war zur Zeit die einzige Frau, für die er etwas empfand, wenn er auch nicht genau wußte, was. Und was tat er? Er belog sie gerade wie Baron Münchhausen. Gern hätte er ihr alles erzählt und seine Angst mit ihr geteilt, aber das durfte er nicht tun. Liisa konnte ihm ohnehin nicht helfen und geriet möglicherweise selbst in Gefahr, wenn sie zuviel wußte.
»Rate mal spaßeshalber, wer am Montag ein Verhör unter verschärften Bedingungen über sich ergehen lassen darf? Vielleicht sogar im Zimmer des obersten Chefs«, sagte Liisa fröhlich, während sie in ihr Auto stieg.
»Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter«, rief Ratamo ihr hinterher und schaute zu, wie Liisa Gas gab und mit aufheulendem Motor in Richtung Werft fuhr. Dann kehrte er in die Kneipe zurück. Er ließ den Rest seines Bieres stehen und vergaß Hämäläinens Mantel absichtlich an der Garderobe. Der Tag war so warm, daß er mit Jeans und T-Shirt sehr gut auskommen würde. Die zahnlose Oma schaute Ratamo sehnsüchtig hinterher.
Ratamo lief in Richtung Mannerahos Wohnung. Er ging gemächlich durch Nebenstraßen bis zur Viiskulma und dann weiter in Richtung Bulevardi. Es herrschte absolute Windstille, und die heiße Luft glich einem dichten, feuchten Schleier. Es war ein Wunder, daß sich noch kein Gewitter zusammengebraut hatte.
Als er sich der Fredrikinkatu 35 B auf etwa zweihundert Meter genähert hatte, ging er auf die andere Straßenseite, von hier konnte man das Haus besser beobachten. Alles sah ruhig aus. Es war kein Polizeiauto und auch sonst nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Langsam näherte er sich dem Gebäude so weit, daß er die Fenster von Mannerahos Wohnung deutlich sehen |142| konnte. Die Gardinen waren aufgezogen, aber von unten ließ sich keinerlei Bewegung feststellen. Sollte er es wagen hineinzugehen? Er hatte genug Krimis gelesen, um zu wissen, daß die Polizei in der Regel den Ort eines Mordes noch lange nach der Bluttat überwachte, in der Hoffnung, der Täter würde an den Tatort zurückkehren. Wie verhielte sich der von Harrison Ford gespielte Held in dieser Situation? Ratamo schaute sich genau um. Gegenüber von Mannerahos Haustür stand ein großer schwarzer Mercedes, in dem zwei Männer saßen. Ihnen entging es nicht, wenn jemand Aufgang B betrat oder verließ. Der Wagen besaß ein blaues Nummernschild wie bei Diplomaten. Beobachtete man aus dem Auto Mannerahos Wohnung? Waren die beiden Männer, die auf der Straße standen und sich unterhielten, Polizisten in Zivil? Im Laderaum des kleinen Transporters einer Glaserfirma könnte jemand darauf lauern, daß er auftauchte.
Nachdem Ratamo die Straße eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, kam ihm alles verdächtig vor. Er gab den Plan auf, in Mannerahos Wohnung zu gehen. Das Risiko war zu groß. Zwei Menschen waren schon ermordet worden, es könnte sein, daß man auch ihn umbrachte …
Ratamo schaute sich einen Augenblick das Schaufenster eines Herrenbekleidungsgeschäfts an, warf einen Blick auf seine Uhr und ging dann in aller Ruhe zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Merkwürdigerweise genoß er den Sonnenschein und den Spaziergang durch vertraute Straßen, obwohl er doch in Lebensgefahr war. Diese Minuten kamen ihm vor wie ein Stück normales Leben mitten im
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