Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
sich umschaute, griff die Frau schon nach der Pistole. Ein Schuss war aber nicht zu hören. Er erreichte den Hauseingang.
Die alte Frau hätte fast der Schlag getroffen, als Ratamo sie beiseiteschob und nach dem Schlüsselbund griff, das im Schloss steckte. Er nahm die Schlüssel mit, machte die Haustür hinter sich zu und rannte die Treppen hinauf. Diese Gegend und ihre Gebäude kannte er gut: Ein paar Freunde aus seiner Kindheit hatten hier gewohnt.
Als Ratamo die Hälfte der Treppen hinter sich hatte, hörte er, wie unten im Hausflur Glas splitterte. Seine Verfolgerin war im Treppenhaus. Nach der vierten Etage endete die Treppe an einer Stahltür, die zum Dachboden führte. Die Schritte hinter ihm wurden lauter, als er den ersten Schlüssel probierte. Sein Herz hämmerte ihm in den Ohren wie eine Bongotrommel, und die Hände zitterten. Der zweite Schlüssel passte nicht. Und der dritte auch nicht. Er warf einen Blick über die Schulter und sah kurz den blonden Pferdeschwanz neben demTreppengeländer in der vierten Etage. Der vierte Schlüssel passte. Er zog die Tür hinter sich zu und tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Sollte er über das Handy Sterligow oder die SUPO um Hilfe bitten? Den Gedanken verwarf er sofort wieder. Damit würde er nur wertvolle Sekunden vergeuden. Die Frau wäre mit den Unterlagen längst über alle Berge, bis Hilfe eintreffen würde.
Die Lampe ging an, seine Verfolgerin rüttelte an der Tür, und Ratamo schaute sich im spärlichen Licht um. Er lief ein Stück weiter und fand, was er suchte. Die etwa zwei Meter lange Leiter endete an einer Dachluke aus Aluminium. In seiner Kindheit war es eines der spannendsten Spiele der Jungs gewesen, trotz elterlicher Verbote auf den Dächern herumzuklettern. Er zog den Mantel aus, stieg die Leiter hinauf und öffnete die Dachluke. Sie war mit einer Eisenkette am Rahmen befestigt, damit sie nicht hinunterrutschte und auf die Straße fiel. Das Dach hatte eine starke Neigung und war hier und da mit Schnee bedeckt. Er setzte den Fuß auf das Blech, es war glatter als eine Teflonpfanne. Vorsichtig richtete er sich auf und schloss die Luke von außen, in dem Moment war an der Tür ein Schuss zu hören. Die Frau versuchte, das Schloss aufzuschießen.
Beim Blick hinunter hatte er das gleiche Gefühl im Magen wie damals als junger Bursche. Schornsteinfeger und Leute, die den Schnee entfernten, benutzten Gurte, wenn sie auf dem Dach arbeiteten, aber Ratamo musste sich mit den Tritten begnügen, von denen viele vereist waren. Er hatte keine Zeit, auf allen vieren zur nächsten Bodenluke auf dem Dach nebenan zu klettern, er musste schnell vorankommen. Wie viel Zeit würde vergehen, bis der Frau klar wurde, dass er aufs Dach gestiegen war? Würde sie schießen? Wenn er abstürzte, bekäme sie die Unterlagen vielleicht nicht. Oder würde sie es riskieren, in der Hoffnung, dass er nicht hinunterfiel, sondern auf dem Dach liegen blieb?
Ratamo trat rasch von einem Trittrost auf den nächsten, den Blick auf die Füße geheftet. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, aber er hörte nur das hämmernde Geräusch seines Pulses. Plötzlich erklang hinter ihm ein metallisches Knirschen. Er blieb stehen und sah, wie die Dachluke geöffnet wurde. Sofort beschleunigte er sein Tempo und eilte jetzt im Laufschritt über das Dach. Die Farbe des Bleches wurde heller, er hatte also das Dach des nächsten Gebäudes erreicht. Er hob den Kopf, um zu sehen, wie weit die rettende Luke entfernt war, verfehlte dabei den Dachtritt, rutschte aus und fiel mit dem Bauch auf das Blech, dass es krachte. Seine Füße fanden auf der glatten Fläche keinen Halt. Fast wäre er ins Leere gestürzt, wenn er nicht im letzten Moment unter seiner Hand einen Tritt gefühlt hätte, an dem er sich mit aller Kraft festklammerte. Das Blut wich ihm aus dem Kopf. Wenn er nur ein paar Zentimeter weiter getaumelt wäre, hätte er dasselbe Schicksal erlitten wie Protaschenko.
Ratamo zog sich auf die Trittroste zurück und rannte gebückt zu der nur noch ein paar Meter entfernten Luke. Als er nach ihrem Griff fasste, sah er, dass die Frau aus zwanzig Meter Entfernung auf ihn zielte, und schaute dem Tod ins Auge.
Die Zeit schien stehenzubleiben. Ein Finger wurde gekrümmt, und alles war zu Ende. Ihre Blicke trafen sich. Irgendwie spürte Ratamo, dass die Frau nicht schießen würde. Er zog die Luke auf und stieg vorsichtig auf die Leiter. Eine Frau, der er nie begegnet war, hatte seinem Leben eine
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