Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
zweit. Jetzt hatten sie gegen den Geier eine Chance. Der SUPO-Mann wusste garantiert, was in derartigenSituationen zu tun war. Er durfte sich jetzt nicht in seine Gedankenwelt zurückziehen. Sonst jederzeit, aber nicht jetzt. Der Plan war ausgeführt. Falls er das hier überleben würde, lägen alle Puzzlestücke des Lebens an der richtigen Stelle. Er würde nie überführt werden, wenn der Geier starb. Auch deshalb musste er es wagen. Nur seine Fußgelenke waren gefesselt. Wie könnte er das dem SUPO-Mann klarmachen? Ihm fiel ein, dass Pinocchio auf Finnisch Holzauge hieß.
Ratamo wäre vor Wut fast geplatzt. Er schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte sich zu beherrschen. Er war Vater eines kleinen Mädchens. Und Polizist. Auch das Leben anderer hing davon ab, was er tun würde. Er musste an Himoaaltos Familie denken. Wie zum Teufel konnte er so naiv sein, anzunehmen, dass ein Psychopath sein Leben verschonen würde? Er hätte sich nicht auf einen Ringkampf mit einem Schwein einlassen dürfen, dabei wurden beide schmutzig, aber der Sau gefiel das. Warum hatte Ketonen ihn hierher geschickt? Was sollte er tun? Fiel ihm irgendetwas ein? An den Stuhl gefesselt, hätte er kaum eine Chance gegen einen bewaffneten Killer, obwohl er seine Beine frei bewegen konnte und der Stuhl ziemlich leicht aussah. Doch er war nicht sicher, ob er Sterligow selbst bei vertauschten Rollen ausschalten könnte. Aber irgendetwas musste er unternehmen, sonst würde man ihn und den jungen Mann abschlachten wie vom Rinderwahnsinn befallene Kühe.
Ratamo warf einen Blick auf Tommila und bemerkte, dass der mehrmals seine Augenlider öffnete, als wollte er ihn auf etwas aufmerksam machen. Er schaute sich in dem Raum um, was versuchte der Mann ihm zu sagen?
52
Am Taxistand auf dem Erottaja krakeelten ein paar Betrunkene. Die gutgekleideten Männer sahen nicht so aus, als würden sie handgreiflich werden, also bot Irina Iwanowa dem Trio einen Fünfhundert-Mark-Schein an, für den Fall, dass sie das erste Taxi, das kam, nehmen dürfte. Der Anblick der schönen Frau, die Finnisch mit russischem Akzent sprach, löste den Männern sofort die Zunge, und sie überschütteten Irina mit immer phantasievolleren Angeboten, die sie sich anhören musste, bis endlich ein Taxi vorfuhr. Zum Glück gaben sich die Männer mit dem Fünfhunderter zufrieden.
Irina setzte sich in den Mercedes und zischte dem Fahrer die Adresse zu. Alles war total schiefgelaufen, obwohl sie dem Ziel schon so nahe gewesen war. Sie hatte Ratamo zu lange gesucht, der war sicher schon bei Sterligow. Falls sie es überhaupt wagte weiterzumachen, musste sie den Psychopathen jetzt hinters Licht führen. Irina war nicht sicher, ob sich das lohnte: Ratamo hatte sie gesehen und würde zusammen mit der alten Frau auf der Kalevankatu gegen sie aussagen. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass Ratamo am Leben blieb: Irina kannte Sterligows Gefühle für den Mann. Sie schaute auf ihre Uhr. Spätestens in sechs Stunden musste sie der SUPO die ausgewählten Einzelheiten des Inferno-Verbrechens mitteilen, sonst würde Tang begreifen, dass sie eine Verräterin war. Hatte sie noch genug Zeit, sich das Passwort zu beschaffen und zu fliehen? Am meisten Angst hatte sie jedoch davor, Sterligow herauszufordern. Sie beschloss, eine kalte Dusche zu nehmen und einen Drink und dann genau zu überlegen, was sie tun sollte. Wenn man unter Stress stand, durfte man nichts überstürzen.
Um Mitternacht gab es auf den Straßen nur wenig Verkehr,Irina war schnell zu Hause. In der Lauttasaarentie bezahlte sie das Taxi mit einem Hundert-Mark-Schein und wartete nicht auf das Wechselgeld. Sie lief mit großen Schritten die Treppe hinauf in die erste Etage und suchte den Schlüssel. Jacke, Rucksack und Schuhe landeten im Flur auf dem Fußboden.
Plötzlich roch sie etwas. Der Duft war ihr vertraut, aber sie wusste nicht woher. Sie nahm an, dass er sie an irgendetwas in Russland erinnerte, schob diese Gedanken dann aber beiseite. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Der Lichtschalter im Schlafzimmer knackte, und Irina schrie vor Angst auf, als sie in dunkle Augen schaute, die sie aus kürzester Entfernung anstarrten. Sie konnte noch ihre Hände ein Stück heben, dann spürte sie einen Stich in der Brust. Mit angstverzerrtem Gesicht blickte Irina nach unten. Die Injektionsspritze steckte genau in Herzhöhe. Der Kolben war durchgedrückt: Das Gift befand sich schon in ihrem Blut.
»Schönen Gruß von Igor.«
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