Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
beschäftigt, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.
Riitta Kuurma wurde allmählich nervös. Ratamo befand sich in Lebensgefahr, und sie saß hier herum, schlürfte Tee und hörte sich das Gerede der liebenswerten Eltern eines Verdächtigen an. Sie suchte ihren Rosenkranz in der Tasche, erinnerte sich daran, dass sie ihn Ratamo gegeben hatte, und wurde noch unruhiger. »Hatte Simo denn keine Freunde?«, fragte sie und wunderte sich selbst, warum. Tat ihr das hochnäsige Wunderkind leid? War der junge Mann eine sensible und einsame Intelligenzbestie und so sehr anders als alle anderen, dass er sich in sein Schneckenhaus zurückzog, um sich selbst zu schützen?
»Simo hatte wohl ein paar Freunde«, antwortete Aino Tommila zögernd. »Aber in der Regel verbrachte er seine ganze Zeit mit dem Computer, oft auch die Nacht hindurch. Irgendwann habe ich dann aufgepasst, dass er vor Mitternacht schlafen ging. Außerdem war er ja mit uns zusammen, und das hat Simo genügt. Intelligente Kinder fühlen sich unter Erwachsenen wohler als unter Gleichaltrigen. Und er hatte ja Tommila.« In ihren Augen glänzte die Sehnsucht, und sie schluchzte.
»Er hatte ja Tommila?«, wiederholte Riitta Kuurma langsam.
»Wir haben ihm zu seinem sechsten Geburtstag einen Dackel geschenkt, obwohl wir beide, Johannes und ich, uns nicht weiter für Hunde interessiert haben. Es hat uns gerührt, dass Simo so sehr einen Freund haben wollte. Sie waren dann auch dreizehn Jahre lang ein unzertrennliches Gespann. Simo und Tommila. Der Junge hatte schon mit sechs Jahren so einen ausgezeichneten Sinn für Humor, dass er dem Hund seinen eigenen Familiennamen gegeben hat. Stellen Sie sich mal vor,Tommilas Hund heißt Tommila«, sagte Aino Tommila, und ihre Mundwinkel zuckten nach oben.
Riitta Kuurma setzte ihre Tasse so heftig ab, dass um ein Haar das Porzellan zersprungen wäre. Tommilas Hund heißt Tommila. Tommilas Hund heißt Tommila … der Hund ist Tommila, wiederholte sie innerlich.
Für Simo Tommila bedeutete ein Hund Tommila. Der Deckname des Mannes war sein eigener Familienname. Angebrannt, rief der Teufel beim Versteckspiel. Riitta Kuurma sprang auf. Jetzt waren sie einer Lösung nahe. Sie bedankte sich bei ihren Gastgebern und wies darauf hin, dass sie über ihren Besuch mit niemandem reden durften.
Die Tommilas hätten sich gern noch länger über ihren Sohn unterhalten. Und es war ja auch noch so viel Tee und Gebäck übrig.
Riitta Kuurma zog ihren Mantel an, band sich das Tuch um den Kopf und rannte zu ihrem Auto. Die verrosteten Scharniere der Ladatür waren eingefroren, sodass sie mit aller Kraft an der Tür zerren musste, bis sie endlich knirschend aufging. Das chemische Zeichen für verrosteten Stahl war L.A.D.A., der Witz fiel Kuurma ein, als sie den Wagen startete. Sie steckte das Handy in den Mischer und tippte die Nummer der Überwachungszentrale ein. Es war 23.56, also immer noch Samstag, und das Passwort, das die Überwachungszentrale erwartete, lautete Delta.
Der Diensthabende meldete sich, Riitta Kuurma nannte ihren Code und das Passwort. Das Gespräch wurde auf eine geschützte Verbindung umgeleitet, und sie verlangte Ketonen. Zu ihrer Überraschung meldete sich der Chef fast sofort.
»Jussi. Simo Tommila ist der ›Hund‹.«
In der Leitung herrschte Schweigen. Ketonen hatte in der Überwachungszentrale auf die Meldungen seiner Mitarbeitergewartet, aber auf diese Neuigkeit war er nicht vorbereitet. Er zündete sich eine Zigarette an, bat Riitta Kuurma, alles zu erzählen, und hörte konzentriert bis zum Schluss zu.
»Gute Arbeit, liebe Kollegin. Dann erwischen wir wenigstens einen der Schuldigen. Ob wir das Geld auch kriegen, weiß ich nicht. Der Raub ist passiert. Inferno ist geknackt worden«, berichtete Ketonen knapp. Er erzählte ihr, dass die National Bank soeben ihr Wiremoney geschlossen hatte. Das Verbrechen war entdeckt worden, als ein Backoffice-Angestellter der Finanzverwaltung des japanischen Großkonzerns Nippon Yusen Kabushiki Kaisha in Tokio um sechs Uhr morgens die Salden der Hauptkonten des Unternehmens überprüft hatte. Die Diebe hatten sieben Überweisungen von jeweils knapp einhunderttausend Dollar vorgenommen. Allein NYK war eine Summe im Wert von über vier Millionen Finnmark gestohlen worden. Man wusste noch nicht, bei wie vielen Unternehmen die Diebe zugeschlagen hatten; die Beute könnte enorm sein. Die Abteilung für Informationsmanagement vermutete, dass die Diebe sicherheitshalber die Konten
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