Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
Über ihre Kopfhaut zog sich eine riesige Narbe, aber das einzige, was ihr Sorgen bereitete, war das leichte Grau in ihren millimeterkurzen Haaren.
In der letzten Zeit betrank sich Ratamo nur selten, ein Kater war ein Gefühl, als hätte man ihn lebendig begraben. Er überlegte, welche unangenehmen Verpflichtungen er auf den nächsten Tag verschieben könnte, und versuchte sich so etwas Erleichterung zu verschaffen. »Verschiebe das, was du nicht ganz streichen kannst« – diesen Grundsatz galt es jetzt anzuwenden. Drei Dinge ließen sich aber nicht verschieben: Er musste unbedingt Himoaalto anrufen, zu der Besprechung gehen und sich mit Riitta treffen. Mit Meri könnte er auch später telefonieren, und seinen Vater würde er einfach vergessen, so wie bisher.
Als sich Ratamo von dem Schock durch sein Spiegelbild erholthatte, schlurfte er nackt in die Küche, mahlte Kaffeebohnen mit einer erst kürzlich erstandenen uralten Mühle und kochte sich einen besonders starken Kaffee. Dann bereitete er sich eine »Auferstehung« zu. Er schlug zwei Eier in ein Glas, gab einen Teelöffel Sambal Oelek dazu und rieb schließlich noch frischen Ingwer in das Glas. Das Gemisch schmeckte ekelhaft, aber er zwang sich, es auszutrinken. Seine vietnamesische Freundin Hoang hatte ihm das Rezept vor langer Zeit beigebracht.
Das war so ein Morgen, an dem er sich wünschte, dass ihm jemand das Frühstück ans Bett brachte. Aber ein Single-Mann musste in der Küche schlafen, wenn er sein Frühstück am Bett wollte.
Er rief Marketta an, die ihm ganz unbekümmert erzählte, dass Nelli früh genauso begeistert zur Schule gegangen war wie immer. Danach fühlte er sich etwas besser. Seine Ex-Schwiegermutter war zum Glück umgezogen und wohnte jetzt nur ein paar Häuser weiter. Ratamo hatte mit Nelli den Schulweg sowohl von zu Hause als auch von Marketta geübt; von beiden Wohnungen waren es bis zur Grundschule in der Tehtaankatu nur etwa zweihundert Meter.
Der Stundenplan am Kühlschrank verriet, dass Nellis letzte Stunde am Donnerstag – Muttersprache – um drei zu Ende war. Er beschloss, dann nach Hause zu gehen und Nelli einen Imbiss zu machen. Das war er ihr nach dem gestrigen Abend schuldig. Eigentlich erfüllte er sonst die Routineaufgaben im Alltag eines alleinerziehenden Vaters zumeist pünktlich. Bei dem Gedanken ließen seine Gewissensbisse ein wenig nach. Ihm ging durch den Kopf, um wie viel leichter er es gehabt hatte, als Kaisa noch lebte.
Jetzt musste er sich um seine Arbeit kümmern, die er am Vorabend vernachlässigt hatte. Ratamo erschrak, als er Himoaaltoanrief. Sein Freund wirkte äußerst gereizt und sagte, er habe extrem viel zu tun und in den nächsten Wochen für nichts anderes Zeit als für seine Arbeit. Ratamo musste all seine Überredungskünste aufbieten, um ihn zu einem gemeinsamen Saunabesuch am nächsten Abend zu bewegen. Er bereute aber sofort, dass er angedeutet hatte, es ginge um wichtige Dinge. Nun war er gezwungen, etwas über die Ermittlungen zu sagen. Doch anders hätte er es auf keinen Fall erreicht, dass Timo ihn besuchte.
Ratamo beschloss, an die frische Luft zu gehen, und zog sich warm an. Er spazierte eine Viertelstunde im Schneetreiben am Merisatamanranta entlang, aß ein paar Tortillas im Restaurant »Mexicana« in der Pursimiehenkatu und spürte, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Doch er hatte immer noch einen üblen Geschmack im Mund, also machte er einen Abstecher zu dem Kiosk an der Ecke von Fredrikinkatu und Merimiehenkatu, um sich »Sisu«-Pastillen zu kaufen.
Vor dem Verkaufsfenster stand ein großer alter Mann, ein Ärmel war leer und am Mantel festgenäht. Der Opa war bestimmt über achtzig Jahre alt und sah so aus, als könnte er nicht mehr selbst für sich sorgen. Seine Kleidung war schmutzig, und die grauen Haare standen ihm zu Berge. Er kaufte Spielzeug. Für insgesamt fast dreihundert Finnmark. Das dürfte für den Mann eine gewaltige Summe sein. Ratamo empfand Mitleid und zugleich Zorn. Musste der Veteran seine Enkel bestechen?
Diesmal war Ratamo rechtzeitig in der Ratakatu. An der Tür des Beratungsraumes hing ein Zettel, die Mitglieder der Ermittlungsgruppe sollten in Ketonens Zimmer kommen.
Ein ganzer Schwall von Lästerungen ergoss sich über Ratamo, als seine Kollegen sahen, in was für einem jämmerlichen Zustand er sich befand.
»Möge Gott den Schmerz mehren«, verkündete Wrede lauthals. Der Stellvertreter des Chefs trug heute einen Westover fast im Farbton
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