Finnisches Quartett
nichts voneinander wissen, oder es kann sein, daß eine von allen anderen weiß. Diese Krankheit wird meist durch eintraumatisches Ereignis in der Kindheit, wie Inzest, ständige Mißhandlung oder Folter, verursacht. Der sadistische Vater von O’Donnell hat in seinem Sohn den Keim für diese Erkrankung gelegt.«
Timmerman stand auf, murmelte etwas in seinen Bart und ging zum Flip-Chart. »Was bedeutet das alles in der Praxis? Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ungeduldig zu sein, ich
bin
ungeduldig. Wir brauchen nur solche Informationen, die uns helfen, O’Donnell zu finden.«
Nun schaute Bruijn Timmerman so sanft und freundlich an, daß auch Mutter Teresa auf diesen Blick stolz gewesen wäre. »Wenn ein Kind in eine schwierige, traumatische Situation gerät und physisch nicht fliehen kann, flieht es möglicherweise in seinem Kopf. Das ist ein äußerst wirksames Mittel zur Verteidigung gegen drohende physische oder psychische Schmerzen und gegen die Erwartung des Schmerzes. Nach der akuten Situation kann es sein, daß das Kind die traumatischen Ereignisse aus seinem Bewußtsein verdrängt und so handelt, als wäre alles in Ordnung.«
Ratamo sah, daß die Verwunderung in Timmermans Gesicht in Verärgerung umschlug, und er wollte seinem Kollegen helfen. »Meinst du damit, daß O’Donnell ein Killer geworden ist, weil er die Flucht in seinem Kopf antrat?«
»In gewisser Weise ist es so. Die ursprüngliche echte Persönlichkeit O’Donnells ist nicht fähig, diese aggressiven Haßgefühle zu äußern, die durch die als Kind erlebte Gewalt entstanden. Deswegen hat er für die Umsetzung seines Hasses die Persönlichkeit eines aggressiven Rächers geschaffen, die er als ›Engel des Zorns‹, als Ezrael, bezeichnet. Diese will Schmerzen bereiten und morden, damit sich der in O’Donnell angestaute Haß entladen kann.«
Katje de Groot beschloß, sich an dem Gespräch zu beteiligen. »Wie ist dieser … Ezrael entstanden? Warum ein Kamelhaarumhang, Engelsgemälde, Kerzen …«
Bruijn setzte sich hin und strich konzentriert zunächst über seine Glatze, dann über sein Kinn. »Eamon O’Donnell hat sich mit dem Mann, der ihn mißhandelt hat, das heißt mit seinem Vater, identifiziert. Das ist ein sehr typischer Abwehrmechanismus. Er verinnerlichte die haßerfüllten und sadistischen Züge seines Vaters und schuf aus ihnen und seinem eigenen Haß Ezrael. Später wurde dann um ihn herum aus religiösen Texten und Phantasien ein ganzes Gedankengebäude errichtet, in diesem Fall kann man sogar fast von einem Universum sprechen.«
Das Gespräch hörte sich für Timmerman immer noch zu theoretisch an. »Wie ist es möglich, daß niemand irgendwann einmal bemerkt hat, wie sich aus einem normalen Belfaster Jungen ein Wahnsinniger entwickelte? Der Mann ist doch schon über dreißig Jahre alt.«
Die Antwort ließ auf sich warten, da Kris Bruijn Wasser trank, sich verschluckte und so prustete, daß Wasserspritzer auf den Beratungstisch regneten. »Wenn O’Donnell mit anderen Menschen zu tun hat, versteckt er sich hinter der Maske perfekter Normalität. In den Winkeln seines Bewußtseins findet sich alles, was ihm hilft, unter den Menschen zurechtzukommen, aber er nutzt es nur dann, wenn es vom Standpunkt seines Auftrags notwendig ist. Man kennt weltweit viele Fälle, in denen nicht einmal die Ehefrau eines psychopathischen Killers von dem Treiben ihres Mannes wußte: Das schrecklichste Beispiel dafür ist wohl der russische Kannibale Andrej Tschikatilo, der zweiundfünfzigmal gemordet hat. Wenn man einen Psychopathen zufällig trifft, vermögen nur wenige zu ahnen, daß unter der sympathischen Oberfläche ein Ungeheuer lauert.«
»Oder ein Engel«, warf Ratamo ein.
Bruijn runzelte die Stirn, was besagte, daß ihm der Kommentar nicht gefiel. »Sie müssen verstehen, daß in O’Donnell zwei verschiedene Menschen existieren. Der wahnsinnigeKiller, Ezrael, der Engel des Zorns, und der schüchterne junge Mann Eamon aus Belfast. Die Frage ist, welche von den beiden Persönlichkeiten jeweils dominiert. Auf der Grundlage dessen, was ich von Ulrike Berger gehört habe, sind die Traumata von O’Donnell so tiefgehend, daß dieser Engel des Zorns gänzlich die Macht übernommen hat.«
»Ist es möglich, daß Eamon Ulrike Berger gehorcht, wie sie es behauptet?« Timmerman wollte Antworten, die er in der Praxis nutzen konnte.
»Es scheint tatsächlich so zu sein, daß O’Donnell Ulrike Berger in das Netz seiner eigenen
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