Finnisches Quartett
Mutter davon, lief zu Ezrael hin und streckte ihre Hand aus, um sein Lächeln zu berühren. »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht«, flüsterte Ezrael auf englisch, nahm das Kind auf den Schoß, legte ihm seine vierfingrige Hand auf den Kopf und segnete es. Das Mädchen roch nach Wahrheit.
Die besorgte Mutter eilte herbei, beruhigte sich aber, als sie Ezraels lächelndes, freundliches Gesicht sah. »Pardon«, sagte die Frau, nahm die Tochter auf den Arm und redete dann weiter.
An den Händen der Frau war kein einziger Ring zu sehen, Ezrael wurde klar, daß sie in Sünde lebte. Dieser Augenblick voller Reinheit wurde zur Heuchelei.
»Ik snap … het niet … Toerist.«
Er verstehe nicht, stotterte er auf niederländisch. Und das stimmte, sein niederländischer Wortschatz beschränkte sich auf ein paar Sätze. Ezrael log nie.
Mutter und Tochter gingen fröhlich davon. Ezrael vermutete, daß die Frau nicht in der Lage sein würde, ihn sehr genau zu beschreiben: Er hatte sich nachlässig-jugendlich gekleidet, und auch die ungewöhnliche Gürtelschnalle war nicht zu sehen, wenn er saß. Urplötzlich tauchte in ihm eine Erscheinung auf, das Bild einer rothaarigen Frau, die traurig aussah und in der engen Küche über den Tisch gebeugtPapierengel ausschnitt. Ein seltsames Gefühl breitete sich vom Unterleib über den ganzen Körper aus, aber er unterdrückte es. Ezrael hatte keine Mutter, und Ezrael kannte keine innigen Gefühle. Er kannte nur die Bestie.
Er schaute dem hüpfenden kleinen Mädchen nach, und seine Gedanken wanderten zum Allerwichtigsten – zum dritten Geheimnis von Fatima. Die Jungfrau Maria war 1917 in Fatima in Portugal drei Kindern, Francisco und Jacinta Marto sowie Lucia do Santos, erschienen und hatte ihnen drei Geheimnisse verraten. Zwei davon kannte man: die Warnungen vor dem Aufstieg und Fall des Kommunismus und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Das dritte Geheimnis hatte Lucia do Santos, die Nonne geworden war, 1943 niedergeschrieben und 1957 dem Vatikan geschickt, aber die katholische Kirche beschloß, es den Gläubigen vorzuenthalten. Fünf Päpste weigerten sich, das dritte Geheimnis zu veröffentlichen, um das sich nun allmählich ein Wust von Geheimniskrämerei und Verschwörungstheorien rankte. Im Jahre 1981 gab es zwei Versuche, den Vatikan zur Veröffentlichung des dritten Geheimnisses zu zwingen: Den ersten unternahm Mehmet Ali Agca mit seinem Papstattentat und den zweiten Laurence James Downey mit seiner Flugzeugentführung.
Schließlich enthüllte die katholische Kirche im Jahre 2000, daß ein Teil des dritten Geheimnisses das mißlungene Attentat auf den Papst betraf, aber die Schriften von Lucia do Santos wurden nicht als Beweis für die Behauptung veröffentlicht. Die Kirche zeigte nur zwei Ausschnitte:
»Der in Weiß gekleidete Bischof«
–
»fiel im Kugelregen zu Boden, so als wäre er tot«.
Ezrael wußte, daß die von der Kirche veröffentlichten Auszüge auf den Mord an Erzbischof Oscar Romero von San Salvador hindeuteten, der schon 1980 begangen wurde. Die veröffentlichten Auszüge hatten nichts mit dem dritten Geheimnis von Fatima zu tun. Die katholischeKirche log, sie verheimlichte das dritte Geheimnis auch heute noch. Aber der Bote hatte es Ezrael verraten, und deswegen führte dieser die Verräter durch die Pforten des Todes ins ewige Feuer.
Ezrael bemerkte, daß er die Fäuste ballte, und er spürte, wie auf seinem Gesicht ein Grinsen zuckte. Langsam verfärbte sich alles orange, er hatte die Bestie zu früh gereizt, jetzt mußte er sie besänftigen. Er trat näher an das WTC-Gebäude heran … Unter den Sündern sein wie die Sünder …
Urplötzlich tauchte das Foto von Ulrike Berger wieder vor ihm auf, das der Bote ihm am Morgen in der Kirche gegeben hatte. Das Bild hatte sich ihm tief eingeprägt, im Kopf wendete er es hin und her, doch ihm fiel immer noch nicht ein, warum er ständig daran denken mußte. Das ließ ihm keine Ruhe, genau so kündigten sich in der Regel seine Offenbarungen an. Er verbannte das Bild aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf den Auftrag.
Jetzt mußte er seine Stellung beziehen. Ezrael schaute noch einmal zu dem Ausgang, durch den die Aktivisten das WTC verlassen würden, und ging dann den Weg entlang, den sie höchstwahrscheinlich nehmen würden, sowohl den zur Strawinskylaan als auch den zur Beethovenstraat. Niemand schien ihn zu beachten.
Der bevorstehende Racheakt bereitete Ezrael Sorgen. Im
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