Finnisches Quartett
nicht der Typ, der zum Helden taugte, er würde also kaum tagelange harte Verhöre aushalten, ohne zusammenzubrechen. Zum Glück kannte Jorge den Namen des Chefs von Final Action nicht, er könnte nur Gloria und Scott verraten. Und sie selbst. Panik befiel Ulrike, als ihr klar wurde, daß die Polizei möglicherweise schon ihre Identität kannte und in Amsterdam nach ihr suchte. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Natürlich machte sie sich auch Sorgen um Lasse, doch der würde nie etwas verraten. Das wäre für seine Selbstachtung ein zu schwerer Schlag. Eines der wenigen Dinge in Ulrikes Leben, die sie nicht verstehen konnte, war, daß sie sich in Lasse verliebt hatte. Sie stammte aus einer Pfarrersfamilie und hatte schon in jungen Jahren beschlossen, ihre Fähigkeiteneinzusetzen, um Menschen zu helfen, während Lasse aus einer Soldatenfamilie kam, auf dem Gebiet der Gewalt ein Profi war und um jeden Preis erfolgreich sein wollte. Vielleicht war es, wie Lasse behauptete, der Ehrgeiz, der sie miteinander verband. Und vielleicht machte sie es sich in ihrem Urteil auch zu leicht; heute hatte Lasse sich unbestreitbar für sie aufgeopfert. Ulrike wurde klar, wie dumm sie sich verhielt. Warum versuchte sie, ihre Gefühle zu begründen?
Ganz in der Nähe dröhnte eine Hupe, Ulrike erschrak so, daß sie sich den Kopf an der Decke des Kofferraums stieß. Sie fluchte, warf einen Blick hinaus, sah Industriegebäude und vermutete, daß die Fahrt nicht mehr lange dauern würde. Ihre Gedanken kehrten zu Lasse und seiner Offiziersvergangenheit zurück. Ulrike kannte keinen anderen Aktivisten, der eine militärische Ausbildung erhalten hatte. Sie verabscheute die Armee, denn die repräsentierte dasselbe ungerechte Gesellschaftssystem, in dem sie aufgewachsen war. Die Bergarbeiter der kleinen Stadt Erzberg hatten über Jahrhunderte für einen geringen Lohn und gefährdet durch Lungenkrankheiten die Besitzer des Bergwerksunternehmens reich gemacht. Schon mit zwanzig träumten sie von der Zeit als Rentner; die Arbeitsjahre waren nur das notwendige Übel, das man überstehen mußte, um die Welt unter Tage verlassen zu können. Für eine Weile.
Ulrike wurde wütend. Die Welt hatte sich nur insofern geändert, als man heutzutage auch von den Sklaven eine Ausbildung verlangte und ihnen Lohn zahlte; und sie konnten für die Nacht in ihr eigenes Zuhause gehen. Aber das System blieb das gleiche: Es war hierarchisch, wurde von den Reichsten beherrscht und beruhte auf der Unterdrückung. Schon Gandhi hatte seinerzeit gesagt, daß die Menschenwürde verletzt wurde, wenn jemand seine Individualität verlor und zum bloßen Rad im Getriebe wurde. Warum begriff man das immer noch nicht?
Der Wagen wurde langsamer, und der Verkehrslärm änderte sich. Waren sie in Amsterdam angekommen? Ulrike öffnete die Kofferraumtür einen Spalt und sah einen ganz in Schwarz gekleideten Mann mit einem Geigenkasten und ohne Kopf, der den Hut zum Gruß lüftete. Sie kannte die Skulptur, also befanden sie sich am Rande des Vondelparks. Dort würde sie überlegen, wie sie Kontakt zu Gloria und Scott bekäme, und sich so weit säubern, daß sie es riskieren könnte, in ein Café zu gehen, um etwas zu essen und die Toilette zu benutzen.
Ulrike löste ihr Uhrenarmband, das an der Kofferraumtür befestigt war, und wartete gespannt, bis der Sierra an einer Ampel hielt. Dann glitt sie hinaus auf den Asphalt, drückte die Tür zu, schlängelte sich zwischen den Autos hindurch auf den Fußweg und rannte in den Park. In sicherer Entfernung blieb Ulrike ganz außer Atem stehen und blickte zur Straße: Der Sierra war schon weit weg, niemand hatte ihr Kunststück bemerkt. Allmählich ließ die Angst nach. Sie ging noch tiefer in den Park hinein.
Kinder kletterten auf den fast bis zum Boden reichenden Ästen eines Ahornbaums herum, der sich im Winde wiegte. Die Sonne schien, und die Menschen erholten sich im Grünen von den Feierlichkeiten zum Tag der Königin. Auf den Uferwiesen der Teiche herrschte ein besonders lebhaftes Treiben: Ulrike sah ein Paar, das sich küßte, wandte den Blick ab und betrachtete alte Leute, die Hand in Hand spazierengingen, und eine Mutter, die ihren Kinderwagen schob. Es kam ihr so unwirklich vor, daß dies für normale Menschen ein idyllischer Frühsommersonntag war.
Ulrike überquerte auf einer schönen Holzbrücke einen schmalen Kanal, ging hinunter ans Ufer eines Teichs und feuchtete ihre Fingerspitzen an. Sie betrachtete ihr
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