Finnisches Quartett
der Engel der Offenbarung an seinen Auftrag erinnerte, bevor der Bote in der Kirche auftauchte.
Im Kirchensaal kniete Ezrael nieder und bekreuzigte sich, wie jeden Morgen, wenn er die heilige Dreieinigkeit von Altarbild, Kruzifix und Keltenkreuz zum erstenmal sah. Das Evangelium lag auf dem Fensterbrett, so wie es sein mußte. Er zündete seine vierzig Kerzen an und genoß einen Augenblick ihren Geruch. Damit vermischte sich heute noch eine andere Nuance, das mußte der Geruch des Engels der Offenbarungsein. Der Duft wirkte auf ihn berauschend, er erinnerte ihn an etwas, woran er nicht mehr denken wollte: den Maiglöckchen- und Schweißgeruch auf der nackten Haut des Mädchens in der Shankill Road. Im selben Augenblick tauchte das Gesicht des Mädchens so deutlich wie lange nicht vor ihm auf, es trieb in einem Meer roter Farbe, die sich überallhin ausbreitete. Die Bestie erwachte.
Ezrael stürzte ins Schlafzimmer, zog den Umhang aus und holte rasch die Lederpeitsche aus dem Schrank. Sie klatschte auf seinen Rücken, einmal, ein zweites Mal … Er machte weiter, bis er das Gefühl hatte, daß die Haut platzte und der Schmerz und das Blut ihn beruhigten. Der Engel der Offenbarung weckte in ihm verbotene Gefühle.
Als Ezrael sich beruhigt hatte, klapperte er eine Weile in den Schränken seiner kleinen Kochnische herum und trug dann zwei Schalen Milch und Honig zum Altartisch. Der Engel der Offenbarung lag zwischen dem Altartisch und dem Altargemälde in tiefem Schlaf, an seiner Seite das Große Buch, und er sah genauso schön aus, wie ein Engel sein mußte. Vielleicht war das Gedächtnis des Engels der Offenbarung vom Lesen im Großen Buch aufgefrischt worden, hoffte Ezrael. Er mußte das wunderbare Wesen eine Weile kräftig schütteln, bis es endlich wach wurde.
Ulrike murmelte irgend etwas Unverständliches, drehte den Kopf in Richtung Fensterbrett und war erleichtert, als sie Ezraels Evangelium erblickte; er hatte nichts bemerkt. Ulrikes Körper sehnte sich nach Lasses Berührung, die Erinnerung an die gemeinsamen Morgenstunden schmerzte.
Als sie Ezrael beobachtete, der in seiner abartigen Wohnung herumlief, kehrte die Angst zurück. Dann sah sie den Fingerstumpf des Verrückten und mußte an die bedrückenden Ausschnitte aus Ezraels Evangelium denken. Mitleid und Angst vermischten sich; schon lange bevor Ezrael so geworden war, hatte man ihn wie ein Ungeheuer behandelt.
Ezrael öffnete Ulrikes Fesseln und reichte seinem Gast eine Schale:
»… und daß du lange lebest in dem Lande, das der HERR euren Vätern geschworen hat ihnen zu geben und ihrem Samen, ein Land, darin Milch und Honig fließt.«
Ulrike griff sofort nach dem Gefäß, trank gierig und wiederholte für sich noch einmal, was sie gestern beschlossen hatte. Sie würde versuchen, die Grundpfeiler der Phantasiewelt Ezraels zu erschüttern. Dafür wollte sie all das nutzen, was sie in seinem Evangelium gelesen hatte. Selbst ein Laie begriff, daß Ezraels geistige Verwirrung die Folge seiner entsetzlichen Erfahrungen war.
Die Schüssel zitterte ein wenig in Ulrikes Händen, als sie noch einmal die fürchterlichen Dinge durchging, von denen sie in der Nacht gelesen hatte. Ezrael schaute zuweilen verstohlen zu ihr hin; sein aufrichtiger, neugieriger Blick und sein sonniges Wesen eines jungen Studenten verwirrten sie immer noch. Der Wahnsinnige strahlte Freude und Sicherheit aus, wie einige der frommsten Gemeindemitglieder ihres Vaters. Wie war dieser Mann zu dem fähig gewesen, was sie selbst als Augenzeuge vor dem WTC erlebt hatte? Ulrike erschrak, als sie bemerkte, daß Ezrael seine Blicke nun dann und wann über ihren Körper wandern ließ wie ein neugieriger Teenager. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, wozu Ezrael imstande wäre, wenn er seiner Begierde nachgab.
Ulrike durfte sich waschen und bekam ein grobes Handtuch. Sie schloß die Tür des Badezimmers ab, drehte die Wasserhähne auf und durchsuchte Ezraels Sachen systematisch. Nicht einmal eine Rasierklinge fand sich. Unter dem warmen Wasser verschwand der Schmutz von ihrem Körper, aber nicht die Angst. Ihr vom Schlaf erfrischtes Gehirn funktionierte jedoch ganz anders als gestern. Es widerte sie an, daß sie die nach Schweiß stinkenden Sachen wieder anziehen mußte.
Als Ulrike ins Wohnzimmer zurückkehrte, beschloß sie, einen Versuch zu unternehmen. »Ich erinnere mich jetzt an den Inhalt meiner Botschaft, ich habe sie im Traum gehört. Ich kam, dir zu sagen, daß dein Auftrag
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