Finnisches Requiem
Rotschopf mußte ein ungewöhnlich schwaches Selbstbewußtsein haben. Er fürchtete offensichtlich, in ihrem Schatten zu stehen.
Die ukrainischen, georgischen, afghanischen, russischen und ungarischen kriminellen Organisationen seien wie Krankheitserreger in die ungarische Gesellschaft eingedrungen, sagte Kuurma. Viele der Ligen sahen Budapest auch als Stützpunkt für ihre internationalen Operationen an. Die größten Organisationen machten jährlich einen Umsatz von mehreren hundert Millionen Dollar.
»Nun lies nicht den ganzen Bericht vor«, meinte Ketonen in freundlichem Ton.
Kuurma fuhr mit dem Finger über das Papier, bis sie die gesuchte Stelle fand. Die EU-Mitgliedschaft würde den Wirkungsbereich der kriminellen Ligen erweitern, zugleich aber den Kampf gegen sie intensivieren. Als Mitgliedstaat erhielt Ungarn leichter ausländische Hilfe zur Beseitigung der Kriminalität. Die Amerikaner halfen Ungarn jetzt schon. Das FBI nahm nicht zufällig in Ungarn das erste Mal an einer gemeinsamen internationalen Operation teil. Das Interesse der USA war offensichtlich: Die kriminellen Organisationen in Budapest dienten der Wäsche von amerikanischem Schwarzgeld und trieben mit den amerikanischen Organisationen Mädchen- und Waffenhandel.
Wrede hatte genug Mut gesammelt, um Kuurma zu unterbrechen. »Nach dem Beitritt wird die ungarische Polizei noch aktiver in Interpol, Europol und Eurojust mitarbeiten und alle Mechanismen der EU zum Schutz der Gesetze nutzen. Es werden schon viele verschiedene Gesetze geplant, um den kriminellen Organisationen das Handwerk zu legen. Jeder …« Wrede verstummte, als Ketonen die Hand hob und ihm bedeutete, daß Kuurma das Wort hatte.
»Die ungarischen Behörden sind bei der Beseitigung der Kriminalität kläglich gescheitert«, fuhr Kuurma fort. Die kürzlich aufgelöste Einheit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, die sich ausschließlich aus ungarischen Polizisten zusammensetzte, habe in den ganzen acht Jahren ihrer Existenz nicht eine wichtige Verhaftung vorgenommen. Offensichtlich werde die einheimische Polizei von den kriminellen Organisationen an der kurzen Leine geführt. Die Versuchung, Bestechungsgelder anzunehmen, sei in Ungarn groß: Nur wenige erhielten einen Monatslohn von mehr als zweihundert Euro.
»Wer leidet am meisten darunter, wenn Ungarn nicht in die Europäische Union kommt?« fragte Ketonen.
»Die Ungarn«, erwiderte Kuurma, ohne lange zu überlegen. »Die EU hat die Antragsteller bei den Beitrittsvorbereitungen im Rahmen der Phare-, SAPARD- und ISPA-Programme allein in den Jahren 2000 bis 2002 mit insgesamt zweihundertzweiundzwanzig Millionen Euro unterstützt«, sagte Riitta und linste dabei auf ihre Unterlagen. »Nach dem Beitritt wird der Geldhahn erst richtig aufgedreht. Für die Landwirtschaftssubventionen und Strukturfördermittel der neuen Mitglieder werden in den Jahren 2004 bis 2006 fünfunddreißig Milliarden Euro ausgegeben. Die Gesamtkosten der Erweiterung werden möglicherweise sogar auf vierundfünfzig Milliarden Euro steigen. Milliarden Euro – stellt euch das mal vor! Und erst danach können die neuen Mitgliedsländerselbst über den Umfang der Subventionen entscheiden. Dann werden diese erst recht in die Höhe schnellen. Es wird angenommen, daß auch Finnland nach der Osterweiterung fünfmal mehr an die EU zahlen muß, als es von der EU bekommt.«
Von allen ehemaligen Ostblockstaaten war es gerade Ungarn, in das am meisten Geld gepumpt wurde. Seit 1989 waren Investitionsmittel in Höhe von fünfzehn Milliarden Euro auch von ausländischen Unternehmen in das Land geflossen.
Ketonen dachte einen Augenblick nach. »Warum tritt die Mafia denn erst jetzt auf den Plan? Ungarns Beitritt ist doch praktisch schon fast beschlossene Sache«, sagte er zu sich selbst und kraulte Musti hinterm Ohr.
Kuurma rückte einen Träger ihres BHs zurecht und fuhr fort: »Akseli Saarnivaara, der den Spitznamen ›Pastor‹ trägt, ist mit Sicherheit einer der Killer von Capri. Die DNA-Proben aus seinem Badezimmer bestätigen das.«
Zum Schluß informierte Kuurma über den neuesten Bericht von Kate Harris. Die Kriminalpsychologin hatte den Verdacht, daß Akseli Saarnivaara der Killer war, der die Hinweise an den Tatorten hinterließ. Der Hintergrund des Mannes stimmte mit ihrer früheren Einschätzung überein: Es konnte sein, daß Saarnivaara unter paranoiden Wahnvorstellungen litt. Für ihn war die EU schuld am Konkurs seines Familienunternehmens,
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