Finnisches Requiem
den Schoß nahm. Diese Zeiten waren wohl endgültig vorbei.
Der Länsiväylä endete an der Porkkalankatu, der VW hielt an der Ampel. Die funkelnagelneuen hohen Glastürme der Geschäftshäuser verdeckten den Ausblick auf das Ufer der Bucht von Ruoholahti. Jede Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs hinterließ ihre Spuren im Stadtbild von Helsinki. Ratamo gefiel die von dunklem Glas dominierte Architektur der Jahrtausendwende besser als der Bad-Stil der achtziger Jahre, in denen alle Gebäude mit Fliesen verkleidet worden waren.
Als er beim Zahnarzt auf Nelli wartete, hatte er lange mit Himoaalto gesprochen. Der war letzte Nacht noch bis zum Ausschankschluß im »Storyville« geblieben, hatte Theater gemacht und dann ein Zimmer im Hotel Vaakuna genommen. Das erste Mal in den dreißig Jahren ihrer Freundschaft hatte Ratamo ihm gründlich die Meinung zu seinem Verhalten gesagt. Die sinnlose Sauferei schon seit Wochen war nichts anderes als eine feige Flucht vor der Verantwortung. Timo sollte der Wahrheit ins Auge schauen: Hunderttausende Finnen hatten so wie er ihren Arbeitsplatz verloren. Ein paar Monate Ruhe und ein anderer Arbeitsplatz könnten ihm guttun: Vor seinem Rausschmiß bei SH-Secure hatte er am Rande eines Zusammenbruchs gestanden. Timo sollte sich zusammenreißen, bevor er etwas tat, was Seija ihm nicht mehr verzeihen könnte. Er würde es nicht überstehen, wenn er seine Frau, seine Kinder und das Kleine, das unterwegs war, verlöre. Auch das hatte Ratamo ihm gesagt.
Zu seiner Verwunderung akzeptierte Himoaalto alles. Vielleicht hatte er ihn mit seiner Predigt gerade in einem Moment erwischt, als ihn der moralische Kater besonders arg plagte, oder der Mann fing einfach an nachzudenken. Das mußte sich in den nächsten Tagen herausstellen. Vorher würde er Seija anrufen und Timos Heimkehr vorbereiten. Eigentlich war es ein gutes Gefühl, dem Freund zu helfen, obwohl er es normalerweise mit allen Mitteln vermied, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen.
Der Käfer hielt auf der Straße Hietalahdenranta an der Ampel. Ratamo hörte jemanden hupen und schaute in Richtung Bulevardi. An der Straßenbahnhaltestelle bemerkte er einen alten Opel mit offener Tür. Ein betagter Mann mit Baskenmütze stand mitten auf der Straße. Er sah so aus, als wüßte er nicht, wohin er wollte oder woher er kam. Betrunken wirkte der alte Herr zumindest aus dieser Entfernungnicht. Ratamo beschloß, hinzugehen und zu fragen, was passiert war, doch da lief schon eine junge Frau vom Fußweg zu dem Mann. Die beiden unterhielten sich einen Augenblick, dann führte sie den alten Herrn zu seinem Opel.
Wrede und Kuurma warteten im ersten Kellergeschoß der SUPO ungeduldig auf Ratamo. Es war fünf nach fünf.
Ratamo erschien im Laufschritt. Er kam wie üblich zu spät, und seine Kollegen warteten auf eine Erklärung. »Ich war auf der Toilette. Mein Magen ist nicht in Ordnung.«
Wrede starrte seinen Untergebenen an wie ein Scharfrichter. Ratamo vermutete, daß er mit seiner gestrigen Faxeinlage einen Feind fürs ganze Leben gewonnen hatte. Sein Pech war, daß möglicherweise seine berufliche Zukunft in den Händen ausgerechnet dieses Mannes lag. Er hatte sich doch wohl nicht im reifen Alter für einen neuen Beruf ausbilden lassen, nur damit ihn dann so ein Korinthenkacker aus der SUPO hinausekeln konnte?
Kuurma unterbrach das Blickgefecht der beiden Männer: »Ismo Varis wurde soeben vom Flughafen gebracht.« Sie wies mit dem Kopf in Richtung Verhörraum. Es ärgerte sie, daß Ketonen nicht dabei war. Natürlich verstand sie, daß der Chef an der Sitzung der Koordinierungsgruppe teilnehmen mußte, die im Moment eine Pressekonferenz gab. Früher hätte Jussi es aber so organisiert, daß er auch beim Verhör von Varis dabeisein konnte. Die guten alten Zeiten waren anscheinend vorbei.
Wrede berichtete, daß die Sicherheitsabteilung alle Überwachungsberichte durchgegangen war, die Varis betrafen. Er hatte sich mit niemandem getroffen, der ihn mit den Morden an den Kommissaren in Verbindung brachte; auch bei den Informationen über seine Telefonate gab es keine Überraschungen. Wrede wiederholte kurz seine Verhörstrategie, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in denschallisolierten, fensterlosen kleinen Betonraum. Ratamo und Kuurma folgten ihm.
Ismo Varis, der schwarz und ordentlich gekleidet war, erwartete die Mitarbeiter der SUPO im hellen Licht der Neonröhren. Die Temperatur betrug mindestens dreißig
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