Finnisches Requiem
allerschlechtesten Ruf und erschien später auf der Gehaltsliste einer kriminellen Organisation in Budapest.
Plötzlich fiel Ratamo ein, wie Wrede zusammengestaucht worden war, und er lächelte. Gut, daß Ketonen den Schotten auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte, jetzt herrschte in der SUPO wieder die nötige Ruhe zum Arbeiten. Aber wie lange? Wrede dürfte nach wie vor Ketonens wahrscheinlichster Nachfolger sein. Ratamo war überzeugt,daß Streber letztendlich immer enttarnt wurden, wenn ein Chef wie Ketonen sie durchschaute. Allerdings mußte man zuweilen so lange darauf warten, daß die Untergebenen solch eines kleinen Napoleons inzwischen den Arbeitsplatz gewechselt hatten. Er hoffte, daß es in der SUPO nicht dazu käme. Immerhin war es ein gutes Zeichen, daß Wrede sich bei Riitta für sein Verhalten der letzten Tage entschuldigt hatte.
Seine Gedanken kehrten wieder zu Peter Seppälä zurück. Warum war der junge Mann freiwillig auf den Balkan in den Krieg gezogen? Wahrscheinlich hatten ihn Waffen und das Militär schon als jungen Mann fasziniert, warum hätte er sich sonst an der Fallschirmjägerschule beworben. Seppälä mußte die Ausbildung auch erfolgreich absolviert haben, denn nur wenige Rote Barette kamen zur Reserveoffiziersschule. Vielleicht wollte Seppälä das Heimatland seines Vaters verteidigen? Das erschien verständlich. An welchen Greueltaten hatte er sich auf dem Balkan beteiligt? Ratamo war nicht gerade erpicht darauf, sich das näher vorzustellen. Dennoch wartete er voller Interesse auf die Begegnung mit Seppälä.
Er schaute durch das Fenster des Notausstiegs hinaus. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß jeder beliebige Passagier den Griff anfassen und die Tür aufreißen könnte. Ob die Tür wohl in den Äther fliegen würde, wie man aus dem Text der Warnung schlußfolgern mußte? Würde der Luftdruck sinken und die Maschine abstürzen? Manchmal schien es unbegreiflich, wie sehr die Menschen einander immer noch vertrauten. Auch auf Fernverkehrsstraßen überholte man nur ein paar Meter von Autos entfernt, die einem mit hundert Stundenkilometern entgegenkamen. Irgendein Fahrer brauchte nur die Hand ein wenig zu bewegen, und der Tod käme im Handumdrehen.
Ratamo zog seine Lehne hoch und vertiefte sich in dasMaterial über »Krešatik«. Der Mädchenhandel war der einträglichste und am schnellsten wachsende Geschäftsbereich der Organisation. »Krešatik« suchte in den armen Ländern mit Zeitungsannoncen verzweifelte und gutgläubige junge Frauen, die dem Elend entkommen wollten und von einem besseren Leben im Ausland träumten. Ihnen wurde eine Stelle als Haushaltshilfe, Sekretärin, Kellnerin, Model oder Au-pair-Mädchen in einem westlichen Land in Aussicht gestellt. Man versprach den Mädchen, die in ihrer Heimat höchstens einhundert Dollar im Monat verdienten, ein Jahreseinkommen von etwa zwanzigtausend Dollar. Auch die Heiratschancen wurden übertrieben dargestellt. »Krešatik« organisierte gefälschte Pässe, Visa und Arbeitsgenehmigungen für die Frauen und bezahlte ihren Flug. Am Zielort wurde ihnen dann erklärt, die Stelle wäre nun doch nicht mehr frei und sie hätten jetzt wegen der Kosten des Fluges und der Dokumente einige tausend Dollar Schulden. So zwang man sie zur Arbeit in Striptease-Clubs oder Bordellen, ihre Pässe wurden eingezogen.
Das Risiko für die Gangster war gering: Da man den Frauen drohte, sie und ihre Verwandten umzubringen, verrieten sie die Männer nicht, von denen sie ausgenutzt wurden. Ratamo las, daß widerspenstige Frauen mit Mißhandlungen rechnen mußten. Sie wurden mit Drogen betäubt, man ließ sie hungern oder brachte sie sogar um. Die Strafen waren so extrem hart, daß nur ganz wenige Frauen wagten, Kontakt zur Polizei aufzunehmen.
Der Verkauf von Frauen als Prostituierte und zur Zwangsarbeit war eine der florierendsten Formen der internationalen Kriminalität. Schon jetzt stellte er die drittgrößte Einnahmequelle der Kriminellen nach dem Drogen- und Waffenhandel dar. Die Jahreseinkünfte im Menschenhandel berechnete man in Milliarden Dollar. Jedes Jahr wurde weltweit über eine Million Menschen verkauft, fünfzigtausenddavon in die USA, wo man die besten Preise zahlte. Ratamo überraschten diese Informationen: War das im einundzwanzigsten Jahrhundert überhaupt möglich?
Das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lieferte die meiste Ware für die Sexindustrie. Dort wurden jedes Jahr über einhunderttausend Frauen beschafft und
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