Finnisches Requiem
noch einmal so viele in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks. Eine Frau brachte dem Verkäufer bis zu zehntausend Dollar Reingewinn. Und Käufer gab es genug. Die Mädchen warfen jahrelang steuerfreie Einnahmen ab, bis sie ausgebrannt waren oder erwischt wurden.
»Schwer zu verkraften, diese Lektüre«, konstatierte Ratamo. Das Ausmaß der kriminellen Phantasie konnte ihn immer noch überraschen. Und auch die Tatsache, wie schlecht es um viele Menschen bestellt war. Eine Lampe leuchtete auf, als Ratamo den Knopf mit dem Bild des Stewards drückte. Er brauchte noch einen Calvados.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Steward kam, die Bestellung aufnahm und auf den Fersen kehrtmachte. Als Wissenschaftler war Ratamo manchmal auf Dienstreisen mit Schlips und Anzug in der Businessclass geflogen; da funktionierte der Service tadellos und zügig. In der Touristenklasse hingegen wurde der unrasierte Mann in Jeans und Flanellhemd nur widerwillig bedient, obgleich gerade die Passagiere in der Touristenklasse ihren Flug in der Regel selbst bezahlten.
Ohne Vorwarnung kehrten die Alltagssorgen zurück, als ihm Himoaalto einfiel. War er schon wieder aufgetaucht? Vor seiner Abreise hatte er auf dem Flughafen in Helsinki bei den Aaltos angerufen. Es war niemand ans Telefon gegangen. Vielleicht sollte er sich Seijas Handynummer besorgen. Zumindest habe ich es versucht, dachte Ratamo und spürte, daß seine Augenlider immer schwerer wurden.
Ratamo wachte auf, weil seine Ohren schmerzten. Er hielt sich die Nase zu und drückte die Luft durch den Gehörgang. Es knackte, und die Ohren waren wieder frei, im selben Augenblick setzten die Reifen des Airbusses auf der Landebahn auf. Sein Mund war trocken, aber die Tabletts hatte man schon weggeräumt. Er traute sich nicht, jetzt noch Wasser zu bestellen.
Der Flughafen Ferihegy wirkte überraschend klein, immerhin lebten in Budapest knapp zweieinhalb Millionen Menschen.
Ratamo erhielt als einer der ersten sein Gepäck und fuhr die Rolltreppe hinauf ins Foyer. Das Schild, nach dem er Ausschau hielt, fand sich sofort. Man hatte ihm gesagt, er solle mit dem Airport-Minibus zum Hotel fahren. Er zahlte zwanzigtausend Forint, setzte sich auf eine Bank und wartete. Nach den Aushängen am Zeitungskiosk zu urteilen, waren die Morde an den Kommissaren hier genauso das Thema Nummer eins wie in Finnland. Seine Augenlider wurden wieder schwer. Aus irgendeinem Grunde wirkte das Geräusch der eiligen Schritte um ihn herum beruhigend.
Ratamo schreckte hoch, als die Frau neben ihm aufstand und den Saum ihres Mantels unter seinem Bein hervorzerrte.
»
Hotel Fortuna, Hotel Mercure Corona, Hotel Erzsébet, Hotel Taverna.«
Ein Mann in einer blauen Uniform wiederholte die Namen mehrfach und ging zum Ausgang.
Die Menschen draußen waren sommerlich gekleidet. Das Wetter schien angenehm warm zu sein. Zum Glück hatte er einige T-Shirts eingepackt.
Die nächtliche Landschaft beeindruckte nicht gerade mit ihrer Schönheit. Auf den ersten Kilometern fuhr der Bus durch ein verfallenes Industriegelände, in dem nur hier und da Lichter brannten. Dann raste er durch ein Plattenbaugebiet, das im Vergleich zu denen in Helsinki riesig war,ein Stadtteil der Zyklope. Alles wirkte ein wenig heruntergekommen, am Straßenrand lagen Abfallhaufen, und die Brücken waren verrostet. Nur die Reklameschilder, die westliche Produkte anpriesen, sahen makellos aus. Sie waren überall zu sehen. Wie auch in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten schien man in Ungarn alles Ausländische überzubewerten. Warum nur geschah das auch in Finnland?
»Hotel Fortuna«, rief der Fahrer, als nach all den Vororten die eigentliche Stadt anfing. Ratamo schaute sich um. An der Hotelfassade bröckelte der Putz ab, weit und breit war nicht ein einziges Geschäft oder Restaurant zu sehen, und in einer Ecke des Parks nebenan hatte jemand einen Müllplatz angelegt.
Ratamo stieg aus dem Bus, der Fahrer gab ihm seine Tasche. Vom Gestank des Haushaltsmülls wurde ihm fast übel. Manchmal hatte er das Gefühl, daß alles, was der Mensch anfaßte, über kurz oder lang zu Scheiße wurde. Die Müdigkeit wurde immer stärker.
Er folgte den Hinweispfeilen des Hotels bis ins Treppenhaus. Im Flur wurde für eine Jugendherberge geworben. Ratamo fluchte im stillen. Wahrscheinlich hatte Wrede seine Sekretärin aus lauter Bosheit eine Gemeinschaftsunterkunft aussuchen lassen.
Im zweiten Stock seufzte er erleichtert. Das Hotel wirkte doch sauber und
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