Finnisches Roulette
ewige Jugend für ihren Geliebten zu bitten. Zeus gab, worum Eos gebeten hatte: Tithonus erhielt das ewige Leben, alterte jedoch wie ein Sterblicher. Als sich der alte und gebrechlicheTithonus nicht mehr bewegen konnte und unablässig vor sich hin plapperte, wurde Eos seiner überdrüssig, sperrte ihren ehemaligen Geliebten ein und verwandelte ihn schließlich in eine Heuschrecke.
Anna betrachtete sich in der Spiegeltür zur Terrasse des Vogelzimmers und schrak zusammen. Sie war Tithonus, die in ihrem Zuhause eingesperrte Alte, die nur noch jammern konnte, und oft nicht einmal mehr das. Konrad war ihr Feind, Eos, der sie töten wollte. Anna schauderte, als ihr klar wurde, daß sie eine Schlange an ihrem Busen genährt hatte.
»Konrad! Ich, ich, ich …«, riefen Eos und Tithonus immer wieder, als das Telefon klingelte.
»Danke, daß du anrufst. Wie geht es mit dem Plan voran?« sagte Anna so, als wäre alles in Ordnung. Die Wut auf Konrad stärkte ihre Stimme, die klar und deutlich klang.
Forster hörte sich verzweifelt an. »Er ist mißlungen. Auf Eero Ojala wurde geschossen. Der Mann lebt, liegt aber bewußtlos im Krankenhaus. Ich weiß noch nicht, wie ich die Aktien von ihm bekomme.«
Anna dachte nach, so gut das in ihrer Verzweiflung ging, und erkannte, daß sich ihr schlimmster Verdacht bewahrheitete. Konrad wollte sich an ihr rächen. »Verwandelst du mich jetzt in eine Heuschrecke, willst du mich umbringen?« Annas von der Krankheit geschwächte Gesichtsmuskeln zuckten unkontrolliert.
Forsters Rücken wurde noch krummer. »Ich verstehe nicht …«
»Und ich begreife nun alles. Du hältst dich selbst für Eos, für die Göttin, da du versuchst, mir das ewige Leben zu verschaffen. Und ich bin deine ehemalige Geliebte Tithonus, jetzt nur noch eine jammernde Gefangene. Dein Mißerfolg in Verona war Absicht, weil du dich an mir dafür rächen willst, daß ich mich für Werner und nicht für dich entschieden habe.«
Jetzt wurde Forster klar, daß Anna ihm vorwarf, er sei ein Verräter. Die Zukunftsphantasien und Selbstvorwürfe, die Depression und der Streß hatten die kranke Frau am Ende verwirrt und der Wirklichkeit entfremdet. Warum mußte das auf diese Weise geschehen, er war doch schließlich der einzige, der nur das Beste für Anna wollte. Diese Wendung erschütterte ihn. Forster hatte niemand anders als Anna, und sie hielt ihn nun für einen Abtrünnigen.
»Nein, Anna. Der Grund für meinen Mißerfolg ist, daß Eero Ojala mit dem Zug nach Verona kam und nicht mit dem Flugzeug, wie es vorgesehen war«, erklärte Forster ganz ruhig. Anna durfte keinesfalls noch mehr schockiert werden.
»Mein Leben hängt von den Aktien meines Neffen ab«, flüsterte Anna. »Tue mir einen letzten Gefallen, und sage offen heraus, ob du mich verraten willst.«
»Liebe Anna, die Namen der Vögel bedeuten nichts. Du weißt doch genau, daß die antike Mythologie mein Steckenpferd ist. Ich habe den Kakadus die Namen Eos und Tithonus ohne jeden Hintergedanken gegeben.« Forster versuchte Anna zu beruhigen, so gut er konnte. Der Streß ließ die dicke Ader auf seiner Stirn anschwellen, als er ihr versicherte, alles werde in Ordnung gebracht. Er fürchtete, Anna könnte vollkommen den Verstand verlieren.
So viele Dinge hätte sie anders machen müssen, überlegte Anna, während Konrads Lügen aus dem Hörer strömten. Sie und Werner hatten vor langer Zeit beschlossen, in ihren Testamenten Laura und Eero, die Kinder ihrer Schwester Kirsti, zu bedenken, Anna war freilich nie auf den Gedanken gekommen, daß Werner vor ihr sterben könnte.
Anna spürte die alte Trauer wie einen stechenden Schmerz, als sie an ihre verstorbene Schwester dachte. Es waren schon über dreißig Jahre vergangen, seit Kirsti ihr vorgeworfen hatte, sie habe ihren Mann verführt und dieFamilie zerstört. Ihre Schwester hatte jede Verbindung abgebrochen und ihr keine Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen. Auch Kirstis Kinder wurden zum Haß gegen sie erzogen. Als Laura und Eero klein waren, hatte Anna ihnen Geschenke geschickt, aber dann einem Brief Kirstis entnehmen müssen, daß nie auch nur ein einziges bei den Kindern angekommen war.
Anna bereute viele Dinge in ihrem Leben, manche ihrer Taten schienen unverzeihlich zu sein. Müßte sie den Schmerz, den sie Konrad zugefügt hatte, und den Mord an Dietmar Berninger mit ihrem Leben büßen? Anna brach das Gespräch mitten in einem Satz Konrads ab und ließ sich von der Flut der Selbstvorwürfe
Weitere Kostenlose Bücher